13. Kapitel - Dra till skogen!

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Das war jetzt doch alles eine Spur zu viel des Guten! Mein Kopf sagte mir zwar, dass es nur eine blöde Geschichte war, doch mein Körper hatte da eine eigene Meinung dazu! Als dann auch noch die Fackeln, die wir draußen aufgestellt hatten, ausgingen, wurde es wirklich unheimlich. Ich hatte zwar per se nichts gegen Dunkelheit, doch die Umstände machten auch mir zu schaffen. Als wir etwas vom „zweiten Stock" des Baumhauses, in welchem wir saßen, hörten, ging Leon nachsehen. Natürlich hatte er recht, es war bloß eine Geschichte – und dennoch ging hier gerade irgendetwas vor sich. So viel Zufall gab es wohl kaum! Ängstlich schauten wir ihm dabei zu, wobei ich möglichst unbemerkt näher an Markus heranrutschte. Doch obwohl Leon meinte, da oben sei nichts, polterte es wieder über unseren Köpfen. „Nein, das stimmt nicht. Du hast gelogen!“, kam es verschreckt von Joschka. Und dann stürzten die Jungs einer nach dem anderen nach draußen, während ich mich nur weiter auf der Kiste, welche mir als Sitzplatz diente, zusammenkauerte.
Der Anführer versuchte seine Mannschaft von ihrer Tat abzuhalten, doch vergeblich. Sie glichen kopflosen Hühnern; die Situation war außer Kontrolle. Auf der Brücke, welche nach Camelot führte, brachte er sie schließlich zum Anhalten. Vorsichtig lief ich zum Ausgang und spähte hinaus.
Gerade als Leon seine Worte wiederholte, von wegen es sei bloß eine Geschichte, erklang eine weitere Stimme: „Ach was du nicht sagst!“ Gonzo sprang von Camelots Dach herunter, dieser Jävlar¹!
„Das passiert, wenn man meine alte Freundin auslacht. Und es wird noch viel schlimmer: Vanessa kommt nicht! Das soll ich euch sagen", er ging auf Leon zu, „Das soll ich dir sagen. Sie glaubt dir kein Wort“
„Ach ja? Und warum sagt sie mir das nicht selbst?“, stellte Leon eine mehr als berechtigte Frage. Darauf meinte Gonzo nur, dass sie es ihm schon noch persönlich sagen wird, und zwar beim morgigen Spiel, wenn sie die Jungs verlieren sehen will. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Dann machte Gonzo endlich Anstalten zugehen, als er sich ruckartig zu mir umdrehte: „Und du bist nicht besser als diese Clowns! Du hast Vanessa genauso im Stich gelassen, als du dich einfach davongeschlichen hast. Musstest dich wohl bei deiner Mami ausweinen?“ Dieser Mistkerl, aber irgendwo hat er ja recht. Zumindest beim ersten Teil, beim zweiten ganz sicher nicht!
„Sjutton också²! So war das Ganze zwar nicht geplant, aber stell dich bloß nicht als was besseres dar, denn das bist du nicht!“ Ich ging auf ihn zu, vor dem hatte ich doch keine Angst! „Und erwähn' noch einmal meine Mutter und du lernst mich richtig kennen! Und jetzt: Dra till skogen!“

„Dra til was?“, fragte Maxi nach, als der Junge mit den Dreadlocks endlich das Weite suchte. „Dra till skogen. Ist ein schwedischer Ausdruck für ‚Fahr zur Hölle‘, wörtlich müsste es sowas sein wie ‚zieh ab in den Wald‘, oder so. Aber die Botschaft scheint ja angekommen zu sein!“
Nachdem das geklärt war, machten sich die Wilden Kerle nach und nach auf den Weg nach Hause.

Mein Bruder und ich beschlossen spontan, heute bei Juli und Joschka zu schlafen, was glücklicher Weise von beiden Elternteilen genehmigt wurde. Papa murrte zwar anfangs, doch ließ sich schließlich breitschlagen. Immerhin hatte ich bereits die letzte Nacht außer Haus verbracht.
Als wir eigentlich schlafen sollten, setzte ich mich zu Markus auf seine Matratze. „Weißt du, ich vermisse Mama", flüsterte ich. Gonzo hatte vorhin mit seiner einfachen Bemerkung Dinge wieder hochgewirbelt, die ich für dem Moment erfolgreich verdrängt hatte. „Ich auch. Ich kann mich kaum noch an ihre Stimme erinnern. Das macht mir manchmal Angst“, gab Markus nun zu. „Ist eure Mutter denn gestorben?“ Verblüfft sah ich Juli an. Sie wussten es nicht? Doch auch Joschka machte einen überrumpelten Eindruck.
Und so erzählte ich mit Ergänzungen von Markus, und unter einigen Unterbrechungen durch aufkommende Tränen, die sich einfach nicht verhindern ließen, die ganze Geschichte, wieso ich nun hier war.
Von Mamas Geschäftsreise angefangen und wie ich dann nach Stockholm zu Onkel Måns ging. An der Stell schwärmte ich etwas von der Schönheit dieser Stadt und des Landes, um mich selbst kurz abzulenken. Ich erzählte auch Markus zum ersten Mal von meinen Empfindungen in diesem Moment, als Måns mir die schlimme Nachricht mitteilte. Gefühle waren normalerweise ein Tabu–Thema bei uns, doch heute schien es egal. Auch er erzählte mir, wie es ihm damit ging und irgendwie war dieses Gespräch dringend notwendig gewesen. Die anderen beiden hielten sich zurück und hörten nur zu, bis Juli schließlich meinte: „Aber sie ist ja nicht ganz weg. In euren Herzen wird sie immer bei euch sein. In manchen Momenten spürt man das. Ich spüre auch manchmal meinen Vater“
Seine Worte berührten mich, doch die Tatsache, dass auch er ein Elternteil früh verlor, stimmte mich traurig. Es war ein seltsam empfindlicher Moment, der uns allen bestimmt noch lange im Kopf bleiben würde.

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Schwedisch für…
¹ „Teufel“
² „Siebzehn auch!“ (freie Übersetzung: „Verdammt noch mal!“)

Tess und der Beginn ihres wilden Lebens  (DWK FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt