Kapitel 15

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Es ist so absurd.

Ich sitze in einem Auto. In einem Auto.

Eine Blechkiste mit vier Rädern. Eine unglaublich moderne Blechkiste. Silbern, mindestens vier Meter lang mit getönten Scheiben und gekrümmten Speichen. Von vorne sieht es so aus, als hätte es ein Gesicht: Scheinwerfer als Augen, Stoßstange wie ein lächelnder Mund, das Zeichen des Kapitols eine Nase.

Ein Auto. Es ist unglaublich. Absurd.

Ich kann nicht behaupten, ich hätte immer schon davon geträumt in einem Auto zu fahren. Ehrlich gesagt habe ich auch nie nur daran gedacht. Warum auch? Es war absolut unmöglich und eigentlich auch völlig unnötig, denn wie könnte man sie in den Minen einsetzten? Die Schächte sind viel zu klein und zu niedrig, um eine Durchfahrt auch nur annähernd zu ermöglichen. Ich weiß, wovon ich rede, ich war schon mal da unten. In der Schule gibt es jedes Jahr eine obligatorische Besichtigung, inder man mit dem Aufzug – den man eigentlich gar nicht Aufzug nennen darf, so morsch ist er – nach unten fährt und seinen Eltern beim Arbeiten zusehen darf. Ich kann mich noch ziemlich genau an die vielen Male erinnern. Es war furchtbar. Alles war schrecklich dunkel und an manchen Stellen war es so stickig, dass man kaum noch Luft bekommen hat. In den Minen zu ersticken ist nicht selten. Explosionen, wie die vor ein paar Jahren... so viele Minenarbeiter, die gestorben sind... Es muss schrekclich sein, da unten eingeschlossen zu sein und genau zu wissen, dass man sterben wird.

Die Hungerspiele, die Arbeit, der Hunger, das alles ist das Werk des Kapitols. So verabscheuenswert, so grausam... Jedes Mal habe ich gedacht, dass das unser Leben ist, das uns bevorsteht. Ein elendes Leben unter der Erde, von allem abgeschnitten, ohne Sonnenschein, ohne Nichts, nur mit der Kohle und den Geräuschen der Spitzhacken. Ich habe es gehasst.

Und jetzt sitze ich in einem der luxoriösesten Maschinen des Kapitols und werde mit Silberbesteck in die Hölle gefahren. Dabei wäre es so schön, ich würde die Fahrt so sehr genießen... Sissley würde es garantiert gefallen, das weiß ich. Von einem Ort zum anderen zu gelangen ohne selber Kraft aufwenden zu müssen, das sollte jedermanns Traum sein. Es wäre so toll ein Auto zur Verfügung zu haben.

Ein Bild erscheint vor meinem inneren Auge und lässt mich heftig zusammenzucken.

Ich in einem Auto, winkend und aus dem hinteren Fenster blickend. Immer kleiner werdend Sam, der ebenfalls winkt und sich mit der freien Hand, die Tränen aus den Augenwinkeln wischt. Abschied. Von zu hause...

"Alles okay mit dir?" Jarrett, der rechts neben mir sitzt, schaut mich besorgt an. Er muss denken, ich würde im nächsten Augenblick wieder anfangen zu schniefen und lautstark zu weinen. Dann müsste sein Hemd als Taschentuch herhalten und das fände er bestimmt nicht so toll. Was denkt er wohl von mir? Dass meine roten Augen ein Beweis meiner Schwäche sind? Dass ich ein jämmerliches, kleines Mädchen bin, für das er nichts anderes als Mitleid aufbringen kann? Vielleicht mag er in ein paar Punkten recht haben, aber wenn es eine Sache gibt die ich ganz sicher weiß, dann ist es, dass ich keinesfalls schwach bin. Meine Chancen stehen nicht optimal, aber meine Fähigkeiten sind nicht zu unterschätzen. Wie Sam gesagt hat, ich bin auf keinen Fall hilfslos. Und ich werde niemanden die Chance geben, mich zu erledigen. Ich werde kämpfen. Um das Leben.

"Keine Sorge, mir gehts gut", sage ich zurückweisend.

"Du bist gerade zusammengezuckt und hattest einen seltsamen Gessichtsausdruck, als würde dir etwas wehtun." Jarrett, siehtst du nicht, was mein Gesichtsausdruck dir jetzt sagt? Ich will nicht reden, lass mich einfach in Ruhe!

"Ach so. Na ja, ich glaube du hast mitgekriegt, wie ich gegen das Sofa..." Ich tippe mir mit einem Finger leicht gegen die Stelle, die Dad untersucht hat, zucke nochmal theatralisch zusammen und wimmere ein bisschen.

Leider scheint Jarrett nicht überzeugt zu sein. Er runzelt die Stirn und schaut mich skeptisch an. War ich etwa zu übertrieben? Ganz leicht beugt er sich zu mir hinüber, dass es schon fast verschwörerisch wirkt und ich weiche – nicht ganz so leicht – zurück, von ihm weg.

Jarrett schaut mich ein bisschen erstaunt an und öffnet dann den Mund. "Du musst mir nichts vormachen. Ich mein, ich bin auch ein Tribut. Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich mache dasselbe durch." Die Worte sind fast nicht zu hören, deswegen muss ich mich ganz schön anstrengen, um ihn zu verstehen.

Und mein erster Gedanke ist: Jarrett, du hast es selbst gesagt! Du bist ein Tribut, das ist das Problem! Wärst du es nicht, würde ich mich dir vielleicht anvertrauen, aber da du es ja bist, kann ich nicht. Mein zweiter: Wenn du gerade das selbe durchmachst wie ich, verbirgst du das aber sehr gut. Bri! Jeder hat seine eigene Art zu trauern.

"Warum sollte ich meine Verletzung vor dir und den anderen verbergen? Was hätte das denn bitte für einen Sinn? Wenn man nicht weiß, dass ich verletzt bin, ist das doch ein riesengroßer Nachteil für mich, weil man mich überschätzt, oder? Und das Überschätzen wäre nur dann nützlich, wenn man mir deswegen aus dem Weg gehen würde, was aber niemand machen würde, weil ich nicht so furchteinflößend bin. Ich müsste eine Verletzung vortäuschen, dann würden mich alle unterschätzen, und das ist ja bekanntlich nicht so gut, aber..", erschrocken breche ich ab. Der Autofahrer starrt mich durch den Spiegel, der vorne von der Autodecke hängt, an, als ob ich... eine Verrückte wäre. Dankschön!

Ich habe mich so in Rage geredet, dass ich nicht mehr auf das geachtet habe, was ich sage. Und was ich gesagt habe, war eindeutig zu viel. Reiß dich zusammen Bri! Das ist einer deiner Feinde. Jeder der 23 Tribute ist ein Feind. Und es ist nicht so klug, seinen Gegnern die eigenen Strategien, mit denen man sie überlisten möchte, zu erklären. Nicht logisch, nich klug, sondern tödlich.

"So wie Johanna Mason", setze ich nach, um ihn von meinen Worten davor abzulenken.

"Da wäre sie bestimmt stolz auf dich." Was soll das jetzt wieder heißen? Sein Schmunzeln und seine Worte – ich kann sie nicht zusammenbringen. War es spöttisch gemeint oder so, wie man zuerst denken würde? Nur aus Spaß? Ne, garantiert nicht! Verdammter Jarrett, kann er sich nicht ein bisschen leichter lesen lassen?

Genervt versuche ich ihm ein nichtssagendes, unechtes Lächeln zu schenken und drehe meinen Kopf weg, um demonstrativ aus dem Fenster zu schauen. Diese Unterhaltung ist zuende!

"Dann hast du schon mal–"

"Jarrett, ich will jetzt nicht reden."

Ich sehe ihn zwar nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er mit den Achseln zuckt und ebenfalls aus dem Fenster stiert.

Den Rest der Fahrt über lässt er mich in Ruhe. Ich bin froh darüber. Denn ich meine es ernst, ich will nicht reden. Ich will nie wieder reden. Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden.

Sollen sie mich doch alle in Ruhe lassen.

The Hunger Games - Das dritte Jubeljubiläum *On Hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt