Kapitel 6 - Sam

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Sam

Ich stehe schon ein ganze Weile im Gebüsch und beobachte Bri beim Werfen.
Ich könnte ihr ewig dabei zuschauen. Es ist so faszinierend zu sehen wie sie in eine andere Welt eintaucht und sich so genau auf eine Sache konzentriert. Diese Sache ist in diesem Fall, ihr Messer aus 7 Metern in den Baum zu werfen.
Sie sagt immer, sie könnte auf diese Entfernung nicht so gut treffen, aber ich denke es ist unnötig zu sagen, dass es nicht stimmt.
Wie jedes Mal, ist jede Faser ihres Körpers angespannt.
Immer, wenn ich ihren koordinierten Ablauf sehe, erfüllt mich etwas.
Ich könnte es Ehrfurcht nennen. Ehrfurcht vor diesem Mädchen, das so unglaublich mit dem Messer umgehen kann.
Ob sie wohl spürt, dass ich hier bin? Dass ich mich versteckt halte?
Auf einmal komme ich mir vor wie ein Vierjähriger.
Wozu bin ich hergekommen? - Um mit Bri zu reden.
Was wollte Cathy? - Dass ich Bri hinterherlaufe.
Was hat Tricia gemacht? - Sie hat mich dazu gebracht, Bri hinterherzulaufen, weil sie genau wusste, dass es das Beste für uns beide ist.
Und was mache ich dann hinter einem Busch?
Schon sirrt das Messer auf den Baum zu. Und da ich genau sehe und weiß, es ein Volltreffer wird, gebe ich meine Deckung auf.
„Das sieht man ja gleich, dass der ins Schwarze trifft.“
Bri dreht sich so schnell zu mir um, dass man meinen könnte, sie hätte die ganze Zeit gewusst, dass ich hier bin. Nur ihr Blick und ihre Körperhaltung beweisen mir das Gegenteil.
Und diese sagen mir, dass ich Glück habe, dass das Messer im Baum steckt und nicht in meiner Brust.
„Sam?“, flüstert sie und verfällt sofort von der Verteidigungsstellung in eine andere, die allerdings alles andere als entspannt ist. Das ist das Mädchen, das ich heute auf dem Platz gesehen habe.
„Weißt du, wo Bri ist? Ich konnte sie nirgendwo finden und da ist mir der Gedanke gekommen, dass sie vielleicht hier sein könnte. Nicht die Bri, die heute weggelaufen ist, sondern die alte Bri. Die, die ich schon immer geliebt habe.“
Nach meinen Worten bleibt die Zeit erst mal stehen. Einfach so. Es ist, als würde dieser Moment eine Ewigkeit dauern, die man in vollen Zügen genießen möchte und doch will, dass er vorbei geht, weil man sehnsüchtig auf das wartet, das dannach passiert.
Bris Mund steht ein bisschen offen, sie hat, wie's aussieht, überhaupt nicht mit solchen Worten gerechnet.
Ich bewundere alles an ihr. Ihre Fähigkeiten, ihre Schwächen, ihre Fehler, ihr Verhalten, ihre Gedanken, ihr Aussehen, dass sich für andere Leute wahrscheinlich nicht von anderen Kindern aus dem Saum unterscheiden lässt, und wiederum für mich so sehr aus der Menge herausstrahlt wie ein Stern, der sich auf die Erde verirrt hat. Ich bewundere ihre Art zu sprechen, ihre Verantwortlichkeit, ihre Schnelligkeit, ihre Treffsicherheit, ihre Intelligenz, ihre Unbeschwertheit, wenn sie mit mir redet und ihre Besorgnis um ihre Familie.
Sie ist der beste Mensch den ich kenne.
Und ich kann gar nicht glauben, dass ich die Ehre habe, so einem tollen Menschen kennen zu dürfen.
War ich noch vor ein paar Stunden wütend auf sie? Unmöglich, das kommt gar nicht in Frage!
So schnell, dass ich es gar nicht kommen sehe, läuft sie direkt auf mich zu und in meine Arme. Im ersten Moment bin ich vollkommen verblüfft, doch dann erwidere ich ihre Umarmung und halte sie fest.
Auf einmal merke ich, dass Bri weint. Ganz leise.
„Entschuldigung“, schluchzt sie.
Um sie zu trösten, halte ich sie noch fester.
„Ich habe dich vermisst“, flüstert sie.
„Ich dich noch viel mehr, als du dir vorstellen kannst“, erwidere ich.
„Glaub ich nicht.“
„Sag ich doch, dass du es dir nicht vorstellen kannst.“
Bri kichert und lässt sich von mir die Tränen abwischen.
Ich frage sie nicht, weshalb sie nicht zu mir gekommen ist, für den Moment lasse ich sie damit in Ruhe und genieße es, sie zum Lachen zu bringen.
„Ich bin froh, dass du gekommen bist.“
„Geht mir auch so. Ich sollte öfter auf Cathy und Tricia hören, meinst du nicht auch?“ Jetzt habe ich sie eindeutig an der Angel. Bris Lachen wird immer lauter. Glück sprießt aus ihren Augen, als sie den Kopf so dreht, dass sie mich angucken kann. Langsam beuge mich zu ihr runter.
Unser Kuss ist schöner und süßer als alle anderen.
Ihre Lippen liegen so sanft auf den meinen, dass ich fast denke, dass es nur ein Traum ist. Doch als ich die Augen öffne kann ich in Bris graue Augen gucken.
Was auch immer der Grund dafür war, dass sie mich linksliegen hat lassen, ich weiß, dass sie mich die ganze Zeit über geliebt hat.
Vorsichtig beendet Bri den Kuss. Sie lächelt mich traurig an.
Dann fängt sie an zu sprechen.
„Ich weiß nicht, warum … ich dachte … du hattest das mit der Pause gesagt, nachdem Peeta gegangen ist und da habe ich gedacht, dass es auch an mir liegen würde und dann war ich so … ich, ich wollte mir immer einreden, dass du mich noch … aber dann habe ich immer gedacht, dass du die Gelegenheit mich loszuwerden, beim Schopf gepackt hast und … mich nicht mehr wollen würdest … und dann heute auf dem Platz, da habe ich gedacht, dass ich mir was vormache, also, dass du eigentlich gar nicht da bist, weil – es war so unlogisch, dass du kommen würdest. Warum warst du da?“
Was? Wie bitte? Ich muss mich verhört haben!
„Du hast gedacht, ich würde dich nicht mehr lieben? Wie konntest du, Bri? Du weißt doch, was du mir bedeutest!“
„Ich dachte ... wenn Cathy und Tricia versucht haben, mich dazu zu bringen dich zu besuchen, weil du nach mir gefragt hast, wie sie mir gesagt haben, habe ich gedacht, sie würden mich belügen, um mich aufzumuntern.“
„Du denkst zu viel, Bri!“, sage ich und knuffe sie spielerisch in die Schulter.
„Einer sollte doch sein Hirn mindestens auf Standby laufen lassen“, erwidert sie und lächelt.
Ich liebe ihr Lächeln.
Und ich liebe sie.
"Ich glaube, ich habe die Bri gefunden?"
Während ich Bri einen sanften Kuss auf die Stirn hauche, denke ich, dass es egal ist, was ich getan, sie gedacht und nicht getan hat. Das Wichtigste ist immer das Jetzt.
Und das Jetzt ist gerade so kostbar, dass ich für einen Moment vergesse, dass schon bald die nächsten Hungerspiele anstehen. Dass noch sehr viele Hungerspiele anstehen werden, von denen ich keine Ahnung habe, ob ich eins hautnah erleben werde oder nur zugucken muss.
Ich versuche den Moment festzuhalten, doch ich weiß, dass er - wie so vieles – nicht lang anhalten wird.

The Hunger Games - Das dritte Jubeljubiläum *On Hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt