Kapitel 2 - Sam

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Sam

Ich weiß, dass ich eigentlich aufpassen müsste, was auf dem Bildschirm passiert.

Ich weiß es, aber ich tue es nicht.

Ich bin mit etwas viel Wichtigerem beschäftigt.

Warum ist Bri vor mir weggelaufen?

Denn offensichtlich hat sie mich gehört, als ich ihren Namen gesagt habe. Es kann kein Zufall gewesen sein, dass sie sich genau in meine Richtung gedreht hat.

Und sie hat mich gesehen, sie hat mir direkt in die Augen geschaut und ist mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck weggegangen.

Und dann, als ich sie gebeten habe zu bleiben, hat sie kurz gezögert, bevor sie weitergelaufen ist.

Will sie mich nicht mehr sehen, nicht mehr mit mir reden?

Das geht schon seit den Hungerspielen so. Es stimmt ja, dass ich ihr nach Beginn der Spiele gesagt habe, ich wolle ein kleine Pause einlegen, um damit klar zu kommen, dass mein Cousin in den Hungerspielen ist. Und dann ist Peeta gestorben. Mein Cousin, der für mich viel mehr als das war, ist gestorben. Das ist jetzt ungefähr ein halbes Jahr her und ich fühle mich immer noch so wie am Anfang. Zerstört.

Allerdings kann ich jetzt besser damit umgehen. Ich kann nicht einfach aufhören mein Leben zu leben und ewig trauern, das ist mir klar geworden.

Nicht, dass ich versuchen würde, seinen Tod zu vergessen. Ich versuche zu akzeptieren, dass jeder einmal sterben muss.

„Aber nicht auf diese Weise“, flüstert eine leise Stimme in meinem Kopf mir immer zu und sie hat recht. Niemand verdient es, so zu sterben. Niemand.

Aber wieso ist sie nach den Hungerspielen nicht zu mir gekommen?

Die Bri, die ich kenne, hätte das getan.

Kenne ich sie etwa nicht so gut, wie ich glaube?

Wenn ihr Cousin gezogen und umgebracht worden wäre, wäre ich jeden Tag zu ihr gekommen und hätte sie getröstet.

Ich hätte mich nicht so versteckt, wie sie es tut.

Auf einmal bin ich wütend auf Bri. Wo war sie, als ich sie am dringendsten gebraucht habe? Jeden Tag habe ich darauf gewartet, dass sie vorbeikommt und mich umarmt, mir Halt gibt. Stattdessen sind andere Menschen gekommen. Freunde von der Schule, Leute, die mich von den Aushilfstagen in der Bäckerei kannten, sogar Tricia und Cathy, Bris beste Freundinnen, haben mich besucht und auf meine Frage, ob Bri auch kommen würde, geantwortet, dass sie das nicht so genau wüssten.

Alle außer Bri waren bei mir.

Liegt es daran, dass ich um die Pause gebeten habe?

Glaubt sie, ich würde gar nicht wollen, dass sie mit mir spricht? Glaubt sie das wirklich?

Aber ich hätte sie doch nicht gerufen, wenn ich sie nicht sehen wollte!

Ich verstehe es nicht.

Was hält sie davon ab?

Hat sie Angst, wie es jetzt mit uns weitergeht?

Oder - dieser Gedanke kommt mir erst jetzt – will sie es nicht? Kann es sein, dass sie mich nicht mehr mag? Ich dachte immer, unsere Freundschaft sei unzerstörbar. Freundschaft, Liebe. Irgendetwas dazwischen. Wir sind schon Freunde, seit wir in die Schule gehen. Ich habe sie in der ersten Klasse kennengelernt, als sie mich ganz offen und interessiert gefragt hat, wie es ist gutes Brot aus der Bäckerei zu essen.

Sie war nicht neidisch und wenn, dann nur ein klitze-klitze-kleines bisschen. Sie war einfach nur neugierig. Meine Antwort darauf war, dass es bei uns nicht oft Bäckereibrot gäbe, weil meine Familie nur bei meinem Onkel und meiner Tante aushalf und wir sowieso meistens nur die alten und verbrannten Brotlaibe essen würden. An dem Abend habe ich meinen Eltern erzählt, was Bri mich gefragt hatte und wurde damit überrascht, dass Mum und Dad sie für unhöflich und unverschämt hielten. Ich musste ihnen versprechen, nie wieder ein Wort mit ihr zu wechseln. Als ob ich es getan hätte! Irgendwann habe ich ein Stück Weißbrot mitgehen lassen und es ihr gegeben. Niemals werde ich ihr strahlendes Gesicht vergessen, als sie den ersten Bissen gegessen hat. Sie war so glücklich, dass sie mich mit ihrer Umarmung fast umgerannt hätte. Den Rest des Brotes hat sie ihrer Familie gegeben, für jeden gleich viel. Seitdem sind wir Freunde. Richtig gute Freunde.

Sie bedeutet mir so viel.

Aber, wenn sie meine Gefühle plötzlich nicht mehr erwidert, ist sie es dann wert, dass ich ihr hinterherlaufe?

Ich hätte auf Stan hören sollen.

Mein bester Freund hat mir abgeraten, herzukommen, weil ich nur Aufmerksamkeit, die ich gar nicht haben wollte, auf mich ziehen würde. „Wenn sie etwas von dir wollen würde, wäre sie schon längst gekommen. Das musst du einsehen, Sam“, hat er gesagt.

Wahrscheinlich bin ich als Einziger zu blind, um zu erkennen, dass ich für Bri nur noch irgendeine Person bin, die man mal gekannt hat, die es aber nicht wert ist, seine Zeit mit ihr zu verbringen.

Wann bin ich Bri so gleichgültig geworden?

Brianna Culshester, das Mädchen, von dem ich sicher war, das es mich voll und ganz versteht. Das erste und einzige Mädchen, das ich je geküsst habe. Das Mädchen mit dem ich einmal ganz kurz in den Wald gegangen bin, um zu schauen wie es da ist und mit dem ich sofort wieder rausgelaufen bin, weil wir so viel Angst hatten. Das Mädchen, das mit mir Messer in Bäume geworfen hat, bis wir immer dort trafen, wo das Messer hin sollte. Das Mädchen mit dem ich über alles reden konnte ohne mir doof vorzukommen. Das Mädchen, das sich an meine Schulter gelehnt hat und geweint hat, weil sie solche Angst vor den Spielen hat.

Das Mädchen, auf das ich immer zählen konnte … bis zu den 74. Hungerspielen, die alles auf den Kopf gestellt haben.

Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, hier aufzutauchen?

Ich will nichts anderes als aus der Menge raus und irgendwohin, wo ich ungestört bin. Inmitten dieser Menschen komme ich mir unverstanden vor.

Also versuche ich einen möglichst unbemerkten Abgang zu machen und laufe los. An einer Frau vorbei, die ein Mädchen an sich drückt und mir einen mitfühlenden Blick schenkt, bevor sie wieder den Bildschirm fixiert. Kann man in dem Fall von „einen Blick schenken“reden?

Ganz unbemerkt bleibe ich nicht, aber im Moment gibt es interessantere Dinge, als den Cousin eines toten Tributs. Manche Leute gucken sich verwundert an, als ich vorbeigehe, sagen aber nichts weiteres. Anscheinend wird gerade etwas sehr Wichtiges verkündet. Ich höre zwar, dass jemandes Stimme aus den Lautsprechern etwas sagt, aber die Worte gehen zum einen Ohr hinein und aus dem anderen wieder raus.

Ich bin schon fast am Rand der Menge angelangt, als ein Tumult losbricht und ich nicht mehr weiter kann.

The Hunger Games - Das dritte Jubeljubiläum *On Hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt