Bri
Aber ich sterbe nicht.
Das steht eindeutig fest.
Ich bin nicht tot und ich sterbe nicht.
Das muss heißen, dass das was ich sehe, real ist. Aber es kann nicht wahr sein! Die Friedenswächter hätten es nie...Mein Kopf ist zu langsam, also handelt mein Körper auf eigene Faust und springt der zerschundenen Person im Türrahmen in die ausgestreckten Arme.
Meine Augen füllen sich erneut mit Tränen, aber diesmal macht es mir nichts aus, denn er ist da und das ist alles was zählt.
Vor allem weil ich mir noch nicht mal sicher bin, weshalb ich weine. Vor Freude oder vor Trauer.
"Sam", murmle ich in seine zerstrubelten Harre und dann finden seine Lippen meine und jeder Gedanke, der in meinem Kopf gewesen ist, verflüchtigt sich, um diesem großartigem, starkem Gefühl Platz zu machen.
Dem Gefühl, geküsst zu werden.
Ich glaube, wir bleiben eine ewig lange Zeit in dieser Position, er vor mir, ich so viel kleiner als er und unsere Lippen, die sich voller Leidenschaft aneinanderpressen. Doch irgendwann kann ich wieder einen klaren Gedanken fassen – na ja, ob er so klar ist, ist zweifelhaft – und spreche ihn laut an Sams Brust aus.
"Nicht hier."
Der kurzweilig unterbrochene Strom von Trännen, beginnt wieder von neuem, mein Gesicht zu ruinieren und hinterlässt vorne auf Sams grauen Hemd einen dunklen Fleck. Doch das stört ihn kein bisschen, im Gegenteil, er drückt mich noch fester an sich.
Nie wieder, nie wieder, werde ich ihn loslassen! Ich werde nicht in den Zug zum Kapitol steigen, sondern hier in diesem Raum mit Sam bleiben, bis es eine Welt ohne die Spiele gibt. Bis endlich Frieden herrscht.
Bri, dass hast du bei Mom, Siss, Trisha und Cathy auch gedacht, erinnert mich eine bösartige kleine Stimme in meinem Kopf, Wach auf Kleine, du kannst dein Leben nicht so bestimmen wie du es gerne würdest. Es liegt nicht in deiner Hand, hier zu bleiben oder zu gehen. Es liegt nicht in deiner Hand, ob du stirbst oder nicht. Es liegt alles in der Hand des Kapitols und daran kannst du, jämmerliches Mädchen nichts ändern!
"Sam?", flüstere ich, weil ich, wenn ich lauter sprechen würde, einen weinerlichen Ton bekommen würde.
"Bri?", fragt er und schiebt mich ein bisschen von sich weg, nicht so weit, dass ich seine Wärme nicht mehr spüren könnte, aber so weit, dass er mir ins Gesicht sehen kann.
Ich hebe meinen Blick, da gefrieren mir die Worte im Mund und stattdessen starre ich ihn nur an.
Sein rechtes Auge ist fast komplett zugeschwollen und verfärbt sich schon leicht lila, über seiner Augenbraue prangt ein prächtiger Bluterguss, an seinem Hals kann ich Kratzspuren erkennen und ein Ärmel seines Hemdes ist weit eingerissen. Er ist das bloße Schlachtfeld.
"Was... was ist da passiert?", frage ich, obwohl ich es schon längst weiß. Ich möchte es nur ausgesprochen von ihm hören. Möchte, dass er mir das bestätigt, was ich sehe.
"Friedenswächter. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht, ehrlich."
Doch offensichtlich ist er nicht so ehrlich, wie er behauptet, denn als ich ihm mit meinem Finger leicht über das Kinn streiche, zuckt er vor Schmerz zusammen. Nein, es ist nicht so schlimm!
"Aber Sam, das muss behandelt werden! Dein Auge... du wirst in einer Stunde nichts mehr sehen können, weil es bis dahin zugeschwollen ist! Und diese Wunde, geh zu Prim, die wird dir bestimmt helfen! Und schau doch nur -"
"Bri", unterbricht er mich, sanft, aber bestimmt, "Ich bin nicht hergekommen, um mir von dir sagen zu lassen, dass ich eine ärtzliche Behandlung brauche. Ich bin hergekommen, um zu wissen wie es dir geht. Bri, sei ehrlich, wie fühlst du dich?"
Die Dringlichkeit seiner Worte überrascht mich. Er steht hier vor mir, mit so vielen Wunden, dass ich sie nicht alle aufzählen kann und sorgt sich um mich. Es ist so typisch Sam, dass meine Augenwinkel wieder feucht werden.
Sei ehrlich Bri, sei ehrlich!
"Es... es ist... mein Alptraum ist zur Wahrheit geworden! Ich komme in die Arena und... und... ich werde gleich in den ersten paar Minuten tot sein. Ich bin hilfslos, ich kann gar nichts, ich bin klein, schwach und zu nichts zu gebrauchen! Ich bin zum Tode verurteilt, ich kann nichts weiteres, als meine letzten Tage zu genießen, aber wie soll das gehen? Ich gehe ins Kapitol, setzte einen exotischen Federhut auf und spiele für alle Leute die Glückliche, die es GROßartig findet endlich, das Kapitol besuchen zu dürfen? Ach nein, ich werde in ein komisches Bergarbeiterkostüm gesteckt und schwinge eine Spitzhacke, während ich neben Jarrett auf der Kutsche stehe und innerlich sterbe! Und ich werde nur eine kleine, nette Figur in iuhren dämlichen Spielen sein, die dramatisch von den Karrieretributen umgebracht wird... und dann... und dann..."
Ich breche ab.
Ich kann nicht mehr.
Ich bin am Ende.
Ich will nur noch raus hier.
Vielleicht kann ich mich vor dem Gong in der Arena von meiner Scheibe bewegen, dann werde ich immerhin nicht von Tributen, die doppelt so groß sind wie ich aufgeschlitzt und mit Speeren durchlöchert oder was die sonst noch alles mit mir machen könnten.
"Guck mir in die Augen", fordert Sam mich mit einem merkwürdigem Tonfall auf.
Resigniert tue ich, was er sagt und versuche meine Tränen aus den Augen rauszublinzeln, damit ich ihn scharf sehen kann. Er wartet, bis er sich sicher ist, dass ich ihn wirklich sehe und ergreift dann das Wort.
"Du bist also der Meinung, dass du nichts kannst, schwach bist und sterben wirst? Du glaubst, dass du nicht den geringsten Hauch einer Chance hast?"
Ich brauche noch nicht einmal mit dem Kopf zu nicken, mein Blick reicht völlig aus, um Sams Worte zu bestätigen.
"Bri, ich werde dir jetzt etwas wichtiges sagen und du musst es dir merken und du musst es mir glauben! Ich werde dich nicht anlügen, um keinen Preis, okay? Also hör mir zu. Ich habe die Ehre dir jedes Mal beim Training zugucken zu dürfen. Wenn du wirfst, bist du wie ein anderer Mensch. Das erste Mal, dass ich dich so gesehen habe, hatte ich ein interessantes Gefühl. Ich hatte Angst. Angst vor dir. Ich bin dein Freund und als ich dich da so an unserer Linie stehen sah, hatte ich Angst vor dir. Wenn ich sah, mit welcher Kraft und Präzision du die Messer im Baum versenkt hast, wurde ich ehrfürchtig. Du bist klein, du hast nicht so eine große Muskelkraft wie diese Muskelprotze aus Distrikt 1 und 2. Aber du bist so zielsicher, dass man mit aller Sicherheit weiß, dass du treffen wirst. Und dass ist nicht das einzige." Ich will protestieren, aber er redet einfach weiter.
"Weißt du noch and em Tag, als das Jubeljubiläum ausgerufen wurde? Du hast mich auf dem Pkatz gesehen und bist vor mir weggerannt, schnurstracks hierher. Weißt du, wie schnell du bist? Du fliegst sozusagen und zwar mit einer Geschwindigkeit, dass einem Hören und Sehen vergeht. Kurze Beine? Wen interessiert das, wenn du so schnell bist? Bri, du hast Talente! Und die anderen wissen nichts davon! Wer würde glauben, dass du ihm in jedem Moment ein Messer ins Herz werfen kannst? Wer würde denken, dass du weg bist, bevor man reagiert und dir etwas nachwirft? Du stecktst voller ungeahnter Fähigkeiten! Niemand wird dich beachten und im entscheidenen Moment werden sie bemerken, dass es ein fataler Fehler ist, jemanden zu unterschätzen. Bri, du bist gut! Du kannst es schaffen!"
Im ersten Moment bin ich sprachlos.
Sprachlos. Sprachlo, sprachlos.
Das gibts nicht!Wie konnte ich das nicht sehen?Alles, was Sam gesagt hat, stimmt. Ich bin schnell und wenn ich ein Messer in meinen Händen halte, treffe ich alles, was ich treffen will.
Wie kann es ein, dass ich das alles übersehen habe und mir stattdessen eingeredet habe, ich wäre schwach und zu nichts nütze?
Ich habe gedacht wie einer der Karrieros. Klein, dünn, da folgt natürlich, dass ich einfach zu beseitigen bin.
Sollen sie das doch alle denken! Es bringt nur Vorteile für mich. Und ihren eigenen -
"Sam, ich kann doch nicht einfach Jugendliche umbringen! Das... das würde ich nie tun! Nein... ich, da sterbe ich lieber selber!"Voller Verzweiflung möchte ich mich gegen Sam lehnen, doch er hält mich auf Abstand.
"Bri, das ganze ist ein Wettkampf! Und nur der Beste gewinnt! Nur der Beste! Alle anderen nicht! Möchtest du deine Eltern, deine Geschwister, all deine Freunde... mich nie wieder sehen? Könntest du dir das vorstellen? Uns ohne dich zurückzulassen, weil du keine Menschen umbringen möchtest?"
"Es ist ein guter Grund! Allein schon der Gedanke, jemanden umbringen zu müssen... Sam, verstehst du nicht, dass ich so etwas niemals tun könnte?"
Seine ganze Körpersprache drückt Verständnis aus.
Er versteht meine Reaktion.
Er weiß wie ich mich fühle.
Ich kann einem Menschen doch nicht einfach sein Leben nehmen.
Dass würde bedeuten, dass ich mein Leben als lebenswerter halte, als das des anderen und ich glaube, dass jeder Mensch das gleiche Recht hat, auf dieser Welt zu leben.
Als hätte ich das Recht über das Leben anderer zu bestimmen.
Niemand ist zu so etwas befugt, es verstößt gegen die Grundrechte eines Menschen.
Aber das Kapitol darf natürlich mit dem Leben spielen!
"Ich weiß, ich weiß... aber... du musst es trotzdem versuchen! Vielleicht musst du niemanden töten."
Sam und ich wissen beide, dass diese Möglichkeit nicht besteht.
Trotz allem bin ich gerührt, dass er so stark versucht, mich zu ermutigen.
"Sam, ich liebe dich, vergiss das nie! Egal, was in der Arena passiert, denk immer daran, dass ich dich liebe und ich dich immer lieben werde!"
Das "bis zum Ende" füge ich nur in meinem Kopf dazu.
"Ich liebe dich auch. Und ich zähle ganz fest darauf, dass du zu mir – uns – zurückkommst!"
Er beugt sich zu mir hinunter und küsst mich so, dass mir der Atem wegbleibt. Und doch erwidere ich seinen Kuss so leidenschaftlich wie er.
Wenn ich jetzt ersticken würde, es wäre mir recht, denn es wäre in einem schönen Moment.
Der Friedenswächter muss all seine Kraft aufwenden, um uns auseinanderzubekommen. Ich klammere mich an Sam, als wäre ich selbst ein Teil von ihm. Was ich auch bin.
"Ich liebe dich Bri!", ruft er und dann bin ich schon wieder allein
Meine Hände haben nichts mehr, was sie festhalten könnten und erschlaffen.
Voller Wut stürme ich zur Tür, versuche sie zu öffnen, doch es gelingt mir nicht. Sie ist zugeschlossen.
Ich trete mit aller Wucht dagegen, aber es bringt nichts.
Ich bin allein.
Endgültig allein.
Es gibt niemanden mehr, der kommen würde.
Allein.
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The Hunger Games - Das dritte Jubeljubiläum *On Hold*
Hayran KurguKatniss und Peeta haben die 74. Hungerspiele nicht überlebt. Das Kapitol hat die aufgeregten Leute unterdrückt. Und nun steht das dritte Jubeljubiläum an. Genau in dem Augenblick, indem das Kapitol es braucht.