2. Kapitel-Flucht

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Lied: Enya-Only Time

Wir müssen hinunterspringen - der Tisch hat nur noch zwei Beine. Das Geschirr liegt zerbrochen verstreut über dem Küchenboden. Das ganze Zimmer ist ausgelegt mit Scherben, Milch schwimmt in einer großen Pfütze, Cornflakes liegen verschütten auf dem Herd und unser Mittagessen wurde auch über die Arbeitsplatte verteilt. Es ist ein einziges Bild der Verwüstung, denn durch die offene Tür sehe ich, dass es im nächsten Raum ähnlich aussieht. Es schockt mich so sehr, dass die erwarteten Tränen ausbleiben. Doch dann entdecke ich den weißen Zettel, der achtlos zwischen den Trümmern auf den Boden liegt. Beim genaueren Hinsehen erkenne ich die Handschrift meiner Mutter und hebe ihn vom Boden auf. Es ist ein Brief an uns, ein Abschiedsbrief.

Ihr müsst von hier verschwinden! Sie werden bestimmt wieder kommen! Es tut uns Leid, ihr müsst euch von jetzt an alleine durchschlagen. Seid vorsichtig und passt auf euch auf. Ich liebe euch!

 Es war kaum lesbar, die Angst deutlich zu erkennen.

Ich stecke den Fetzen Papier als Andenken in meine Hosentasche. Ja, was machen wir jetzt? Ich habe den Zettel laut vorgelesen und wie zu einer Salzsäure erstarrt sehe ich aus dem Augenwinkel meinen Bruder neben mir stehen. Nur zu gerne würde ich einen schnellen Blick in seinen Gedankengänge riskieren.

„Wir müssen hier weg, Mama und Papa haben Recht, sie werden vielleicht noch einmal kommen.“

Keine Reaktion

„Los, packen wir etwas Essen, das bisschen Geld zusammen und hauen einfach ab. Nimm von mir aus auch Sachen mit, die dir wichtig sind...aber nicht zu viele, wir haben nur wenig Platz. Wir nehmen am besten den roten Rucksack von Mama mit, da passt genügend Zeug hinein.“

Ich musste etwas sagen. Die eigentlich kleine Küche scheint mich aufzufressen. Sie wirkt so groß und leer, genau wie es gerade in meinem Kopf aussieht. Leer.

Plötzlich stößt etwas kleines, flauschiges an mein Bein. Ein überraschter Blick zum Boden lässt mich das winzige Wollknäuel als April, unseren Hund, identifizieren. Die habe ich ja ganz vergessen! Nach kurzem Grübeln, beschließe ich, dass natürlich auch April mitkommen muss, obwohl es bestimmt noch schwieriger wird, mit einem Hund zu reisen, aber wir können sie ja schlecht hier alleine zurücklassen. „Das Hundefutter muss auch mit, Jonny.“ Allein ein Nicken zeigt mir seine geistliche Anwesenheit. Danach verschwindet er in seinem Zimmer, während ich anfange, die Gelddose zu plündern. Nicht recht viel, aber hoffentlich ausreichend. Danach sind der Kühlschrank und die Speise dran.

Mist, das passt nicht alles in den Rucksack rein. Eine alte Sporttasche muss deswegen als Mini-Kleiderschrank herhalten...und für Jonnys Schneekugel, die mir gerade vors Gesicht gehalten wird. Die Schneekugel, die ich ihm vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt habe.

In ihr ist ein kleines Häuschen mit Garten zu sehen.

Immer, wenn wir von der Schule kommen, müssen wir zuerst ein kleines Stück durch die Stadt gehen. Im Dezember jenes Jahres stand diese Schneekugel im Schaufenster eines Kaufhauses. Und natürlich haben wir uns, wie alle Kinder, früher immer die ausgestellten Spielzeuge angeschaut, auch wenn wir uns diese nie kaufen dürften. Ihm hat bei dieser Kugel besonders der Garten gefallen, der nach dem elektronisch betätigtem Schütteln mit weißen Schneeflocken bedeckt war. Wie wir noch klein waren wollten wir auch einen Garten haben, auf dessen Bäumen wir klettern und Verstecken spielen hätten können.

Als ich seinen Begeisterung sah, wusste ich, dass ich das perfekte Geschenk für ihn gefunden habe. Drei Wochen lang habe ich jeden Tag unsrer inzwischen verstorbenen Nachbarin die Einkäufe erledigt, bis ich das Geld zusammen hatte. Voller Stolz bin ich dann noch am selben Abend in den Spielzeug-Laden marschiert und habe die Schneekugel gekauft. Er war begeistert von meinem Geschenk und hat sie bis heute gehütet wie einen Schatz. So wundert es mich auch nicht, dass er sie mitnehmen will.

Ich gehe noch einmal in mein Zimmer . Es ist schwer, das Haus und sein Zimmer, in dem man sein ganzes Leben verbracht hat, hinter sich zulassen. Aber ich schätze, das kann jeder nachvollziehen, der schon mal in seinem Leben umgezogen ist. Aber die Option, mein Haus zu verlassen ist immer noch besser als die, meinen Bruder zu verlieren.

Ich kann in meinem Zimmer nichts finden, was mir besonders wichtig ist. Ein Abspeichern eines Bildes von meinem Zimmer im Kopf reicht mir aus. So nehme ich Aprils Hundeleine vom Haken und gehe zurück in die Küche.

„Also, die Taschen sind gepackt. Ich glaube, es ist am besten zum Bahnhof zu gehen, per Anhalter ist zu auffällig. Vielleicht schaffen wir es irgendwie mit dem Zug aus Germomy zu kommen.“ Jonny schweigt, immer noch, aber ich lasse ihn. Besser, als die ganze Zeit vollgeschwafelt zu werden.

Vor einer Stunde war die Welt noch in Ordnung. Da war mein größtes Problem noch, wie ich jemals Physik kapieren kann.

So schnell kann sich alles ändern.

Die Haustür fällt ins Schloss. Mit zwei Taschen ausgestattet gehen wir in unser neues Leben.

Auf Der Flucht

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Rechts ein Bild von Jonny :)

Never again! Never again?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt