5. Kapitel- Tante Emmy

819 21 6
                                    

Lied: Coldplay: The Scientist

Am nächsten Morgen ist es ganz schön frisch. Der Fahrtwind fühlt sich auf der Haut wie tausend Nadelstiche an. Fröstelnd ziehe ich die Decke etwas höher. Die Jungs schlafen noch. Es ist halb neun, also müssen wir die Grenze in der Nacht passiert haben. April liegt neben mir unter der Decke und schaut mir in die Augen. „Hallo, Kleine.“, begrüße ich sie. Ich erwarte keine Antwort und die bekomme ich auch nicht. Eineinhalb Stunden haben wir ungefähr noch, da kann ich Jonny und Ron noch schlafen lassen. Die Decke um meinen Körper geschlungen richte ich mich auf und ziehe den Abschiedsbrief aus meiner Tasche. Ich streiche ihn glatt

Es tut uns Leid, ihr müsst euch von jetzt an alleine durchschlagen.

Es tut uns Leid... wieso?...eher sollte es uns Leid tun, dass wir ihnen nicht geholfen haben. Das Leben ist ungerecht. Man wird dafür bestraft, was andere sind oder gemacht haben. Kellon ist für mich ein größenwahnsinniger Irrer, der die Welt bestimmen will, oder zumindest einen teil davon. Aber was soll man den tun, gegen solche mächtige Leute hat man ja gar keine Chance. Ich seufze und stecke den Zettel wieder ein. April bellt, erschrocken zucke ich zusammen. Neben mir bewegt sich etwas. Wie in einer Schockstarre bleibe ich sitzen und warte ab. Doch es ist nur Jonny, der nun auch aufgewacht ist.

„Gott, hast du mich erschreckt.“, flüstere ich.

Sofort läuft April zu ihm hin. Jonny krault sie am Kopf und schaut zu mir.

„Wie lange haben wir noch?“

„Keine Panik, wir haben noch ne' gute Stunde.“, antworte ich ihm.

„Ihr wart gestern aber noch ganz schön lange wach, was habt ihr denn die ganze Zeit so gemacht?“, ein verschmitztes Lächeln zeichnet sich in seinem Gesicht ab.

„Wir haben uns nur über unsere weiteren Pläne unterhalten.“

Ganz wahr ist das nicht, aber er muss ja nicht alles wissen. So richtig scheint er mir das auch nicht zu glauben, jedoch wird unser Gespräch von dem nun nicht mehr schlafenden Ron unterbrochen. Hoffentlich hat er unsere Unterhaltung nicht mitgehört, schießt es mir durch den Kopf. Aber ich kann nichts in seinen Gesichtszügen erkennen.

„Hey“ „Morgen!“, antworte ich ihm und drehe mich um.

„Guten Morgen“, sagt Jonny ebenfalls.

„Was sagt die Uhr?“

„Fünf vor neun. Ich würde sagen, wir essen jetzt und packen danach unsere Sachen in die Taschen. Aber ich habe nur noch Zwieback dabei, das war das einzige mitnehmbare, was ich zu Hause gefunden habe. Nicht gerade so ein 5-Sterne-Essen, wie du es gewöhnt bist, Ron.“

Er lächelt.

In der Ferne sieht man nach kurzer Zeit schon eine Ansammlung von Häusern auftauchen, auf die wir mit High-Speed zurasen. Also deponieren wir die Taschen wieder hinter einer kleinen Erhebung des Daches. Als nächster Stopp wird bereits Menarche angezeigt, in zwanzig Minuten soll also unsere Zugreise beendet sein. Auf und nicht im Zug zu fahren finde ich sogar noch schöner. Auf dem Dach ist es viel interessanter, abenteuerlicher halt, aber leider ist es ja eigentlich verboten.

Ron wirkt neben Jonny noch größer, als er eh schon ist. Er ist fast einen Kopf größer als ich. Er hat wie ich braune Haare und diese wunderschönen Haselnuss-Augen, die ich einfach nur umwerfend finde. Manchmal erinnert er mich an Jonny, obwohl mein Bruder in Puncto Aussehen völlig anders ist. Aber vom Charakter sind sie sich ziemlich ähnlich.

Ich könnte jetzt so viele gute Eigenschaften von Ron aufzählen, aber ich muss mich jetzt auf Wichtigeres konzentrieren. Menarche kann man nun schon in ihrer vollen Größe sehen. Wie sollen wir da bloß Tante Emmy finden? Die Stadt ist riesig und Menisch können wir auch nicht. Wir wissen zwar, wo sie wohnt, aber diese eine Straße von hunderten zu finden dürfte sich schwierig gestalten.

Never again! Never again?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt