Nach ein paar Tagen kam Kyla der Wald wieder vertraut vor. Sie wusste, sie waren nicht weit weg von ihrem ehemaligen zu Hause. Und tatsächlich am nächsten Tag konnte sie die Ruine ihrer Stammburg auf dem Hügel vor ihr sehen. Ihr Herz krampfte sich zusammen, die Erinnerung an die Nacht des Überfalls und ihrer Flucht wurden wieder wach. Dennoch zog es sie hin zu dem Ort an dem sie einst auch glückliche Tage verbracht hatte.
Jo hielt sein Pferd neben ihr an. „Hast du dir das auch gut überlegt?", fragte er ein wenig besorgt. Den Blick nach vorne gerichtet nickte sie nur und trieb ihr Pferd wieder an. In der Nähe der Burg schlugen sie ihr Lager auf. Kyla nahm ihren Langbogen und den Köcher und wandte sich dann an Jo und ihre Begleiter: „ Wartet hier auf mich, ich werde bis zum Einbruch der Dunkelheit zurück sein." „Soll ich nicht doch lieber mitkommen?" Kyla schüttelte lächelnd den Kopf: „Du sorgst dich viel zu sehr um mich, Jo, aber ich kann ganz gut auf mich aufpassen." Dann wurde ihr Gesicht ernst als sie leise fortfuhr: „Da muss ich allein durch. Ich muss mit meiner Vergangenheit endlich abschließen, damit ich nach vorne blicken und meinen eigenen Weg finden kann." Den letzten Satz hatte sie mehr zu sich selbst gesprochen. Sie wandte sich um und ging zu Fuß Richtung Burg. Jo sah ihr eine ganze Weile nach. Er konnte nicht verstehen, warum es Kyla so wichtig ist war, das Grab ihres Vaters zu suchen.
Kyla stand im Burghof und plötzlich kamen all die Erinnerungen an die Nacht des Überfalls wieder zurück. Sie sah zur Balustrade hinauf und hörte wieder die Stimme ihres Vaters. Dann erinnerte sie sich wieder an ihre letzte Begegnung mit ihrem Vater. Sie lief zu dem Baum, wo sie ihren Vater zurückgelassen hatte. Natürlich lag sein Körper dort nicht mehr. Aber sie erinnert sich an seine letzten Worte und Tränen rannen über ihre Wangen. Von einem Geräusch aus den Gedanken gerissen wischte sie eilig ihre Tränen weg und dreht sich um. „Wer seid ..... Oh Gott steh mir bei.....Herrin?.....Edele Herrin Kyla?.....Seid ihr das?....." Eine ältere Frau stand ungefähr 5 Meter von ihr entfernt und starrte sie mit aufgerissenen Augen an. Kyla war ebenfalls völlig überrascht und brachte zunächst kein Wort heraus. Erst als die Frau ein paar zaghafte Schritte auf sie zu machte, erkannte Kyla die Frau wieder. „Seid ihr .... Ruth?" Die Frau nickt mit Tränen in den Augen. Kyla überwältig von ihren Gefühlen lief auf die Frau zu und ließ sich von ihr wortlos in die Arme schließen. So wie sie es früher immer getan hatte, wenn sie Kummer gehabt hatte. Die beiden Frauen ließen ihren Gefühlen freien Lauf. Nachdem sie ihren Freudentränen wieder getrocknet hatten, erzählte Kyla,warum sie wieder zurückgekommen war. Ruth nickte verständnisvoll: „In den Tagen nach dem Überfall haben wir die Toten bestattet und aus der Burg gerettet, was noch zu retten war bevor Plünderer sich der letzten Besitztümer bemächtigen konnten. Deinen Vater hat natürlich neben deiner verehrten Mutter seine letzte Ruhe gefunden. Nun sind sie im Himmel wieder vereint." Kyla nickte dankbar: „Hab Dank." „Soll ich dich zum Grabe deiner Eltern führen?", Ruth sah Kyla fragend an. Kyla ergriff dankbar die Hand von Ruth und nickte abermals.
Während Kyla die Gräber ihrer Eltern besuchte, sprach sich ihre Rückkehr im Dorf herum wie ein Lauffeuer. Als sie sich schließlich auf den Rückweg machte, kam ihr eine Gruppe Dorfbewohner entgegen. Sie bejubelten ihre Rückkehr und Kyla wurde das Herz schwer. Eigentlich war sie ja nur auf der Durchreise und wollte nicht bleiben, aber als sie in die hoffnungsvollen, fröhlichen Gesichter sah, war sie sich nicht mehr so sicher. Man lud sie ins Dorf ein und schnell war ein kleines Fest zu Ehren des Überraschungsgastes organisiert.
Ruth merkte als Erste, dass sie etwas bedrückte. „Was ist mit dir, mein Kind?", fragt Ruth besorgt. Kyla sah Ruth traurig an, weil sie wusste, dass sie Ruth und all die fröhlichen Menschen hier enttäuschen würde. „Ach Ruth, es ist so schwer. Aber ich kam nicht hier her zurück, um zu bleiben, sondern um mich für immer zu verabschieden. Ich wollte weit weg einen Neuanfang wagen ohne die Last der Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse damals. Ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich die Menschen hier vergessen hatte. Ich habe nicht im entferntesten geahnt wie sehr sie mich brauchen." Kyla sah zu Boden, sie war hin und hergerissen. Ruth spürte ihre Zerrissenheit und nahm Kyla's Hand. „Ich kann dich verstehen, mein Kind. Du musst deinen Weg gehen wo auch immer der hinführt. Höre auf dein Herz, es wird Dir den rechten Weg weisen." Kyla nickt in sich gekehrt. Nach einer Weile des Schweigens stand sie auf und sagte laut: „Ich weiß noch nicht, ob ich einer solch großen Verantwortung gewachsen bin. Lasst mir ein wenig Zeit, mich meiner Sache klar zu werden. Ich wollte einen Freund besuchen und werde diesen um Rat und Hilfe bitten. Im nächsten Frühjahr werde ich euch meine Entscheidung mitteilen, denn wenn ich wieder zurückkomme, dann bleibe ich auch für immer. Doch wie auch meine Entscheidung ausfällt, ich werde euch nicht im Stich lassen und alles tun, um euch eurer Los hier so erträglich wie möglich zu machen." Wie erwartet, war der Jubel gedämpft. Sie wusste, die Menschen hatten mehr erwartet. Sich der schweren Verantwortung für diese Menschen bewusst, verließ sie das Dorf und kehrte zu Jo und ihren Begleitern zurück.
DU LIEST GERADE
Wohin dein Herz dich führt
Ficción históricaKyla wächst als einziges Kind eines Edelmannes auf der Stammburg der Familie auf. Da ihre Mutter früh stirbt, muss Kyla schnell lernen, selbstständig zu werden. Ihr Vater nimmt sie von klein auf mit auf die Jagd und lehrt sie mit Schwert und Pfeil u...