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Brief an Ari

Liebste Ari,

Lange haderte ich mich mit mir, ob ich tatsächlich so etwas wie diesen Brief hier schreibe. Du weißt, ich war noch nie gut darin ein Tagebuch oder ähnliches zu führen und doch glaube ich, wird mir dieser Brief an dich helfen.

Wir Menschen sammeln gerne Erinnerungen, ob nun allein oder in Gesellschaft. Wir mögen es, etwas erlebt zu haben, damit angeben zu können. Wir erinnern uns gerne an die schönen, fröhlichen und unbeschwerten Momente in unserem Leben. Sie machen uns als Person aus, denn ich bin der Meinung, dass gerade Erinnerungen uns als Mensch zeichnen.

Doch es gibt immer eine Kehrseite des Ganzen, so auch bei den Erinnerungen. Es gibt auch die traurigen, verzweifelnden und grausamen Erinnerungen, an die wir uns nicht erinnern wollen und es doch ungewollt tun. Man kann sich halt nicht immer aussuchen, woran man denkt. Und auch diese Erinnerungen machen den Menschen aus, lassen ihn aus Fehlern lernen, damit beim nächsten Mal vielleicht wieder eine schöne Erinnerung entsteht und die schlechte verdrängt werden kann.

Doch ich habe lange keine schöne Erinnerung mehr meinem Kopf hinzugefügt. Die schlimmste Erinnerung in meinem Leben wird für immer dein Verlust sein. Ich habe das Gefühl, mit deinem Verschwinden hast du mir auch meine Fröhlichkeit genommen. Diese Fröhlichkeit, die du so sehr an mir geliebt hast.

Sag mir Ari, geht es dir denn wenigstens besser dort oben? Bist du im Himmel bei den Engeln, so wie ich es dir immer erzählt habe? Hütest du meine Fröhlichkeit wie einen Schatz bei dir, bis ich zu dir komme, damit du sie mir wieder überreichen kannst?

Anfangs habe ich einen Schuldigen gesucht, weißt du? Mein Hass fiel auf meine Freundin, die ich so sehr liebe, die jedoch in meinen Augen meine Schwester auf dem Gewissen hat. Meine Schwester, die ich über alles liebte und noch immer liebe. Warum nur musste sie auch so schnell bei dem Regen fahren? Hätte sie nicht einfach die Geschwindigkeit drosseln können? Es wäre doch egal gewesen, wenn wir zu spät bei dem Geburtstag deiner Freundin angekommen wären, oder?

Dann fiel mein Hass auf das Reh, das sich gerade den Moment zum Überqueren der Straße ausgesucht hatte, als wir dort langfuhren. Hätte es nicht eine Sekunde später oder früher rüberlaufen können? Oder es generell sein lassen? Dann wärst du jetzt noch bei mir, ebenso wie Yuna. Ich hätte euch beide nicht verloren.

Schlussendlich hasste ich nur noch mich selbst. Warum überlebte ich als einziger diesen Unfall? Warum bin nicht ich gestorben? Du hattest noch so viel vor dir, du wolltest unbedingt Tierärztin werden und das hättest du auch geschafft. Du hast alle Lebewesen der Welt geliebt und mir hast du am meisten deiner Liebe entgegen gebracht. Ich habe sie aber nicht verdient.

Ich sehe den Moment noch immer vor meinem inneren Auge abspielen, auch wenn die ganze Sache nun auf den Tag genau ein Jahr her ist. Ich weiß noch, wie das Auto ins Schleudern geriet und du und Yuna erschrocken aufschriet. Und das war auch das letzte, was ich je von euch hörte, denn im nächsten Moment krachte das Auto in den Baum und ließ mich bewusstlos werden.

Als ich wieder zu mir kam, fiel mein erster Blick sofort auf dich. Ich ignorierte den riesigen Glassplitter, der in meinem Bauch steckte, ich lehnte mich einfach zu dir herüber, nahm deinen kleinen, zierlichen Körper in meine Arme und begann sofort zu weinen. Du sahst so friedlich aus und obwohl du so viele Schrammen im Gesicht hattest, warst du wunderschön. Viele sagten, du seist mir wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen, als wären wir Zwillinge, die nur zeitversetzt zur Welt gekommen sind, doch das war eine Lüge. Du sahst mir ähnlich, doch niemals würde ich so schön aussehen, wie du es warst.

Ich wusste, dass du bereits tot warst, als du in meinen Armen lagst und ich um dich weinte, doch ich wollte es nicht vollends realisieren. Es konnte nicht sein, dass ich von einem Augenblick auf den anderen meine über alles geliebte Schwester verloren hatte. Eben noch habe ich dein schönes Lachen gehört und jetzt sehe ich nur noch in deine geschlossenen Augen, dein hübsches Gesicht, das so aussieht, als würdest du friedlich schlafen.

Ari, ich weiß nicht, wie ich je darüber hinwegkommen soll und im letzten Jahr habe ich auch keine Anstalten gemacht, es zu versuchen. Asuka zog weg und ich hatte niemanden mehr hier. Wir beide haben jemanden verloren, ich mehr als sie, denn immerhin ward ihr beiden die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Aber Asuka verlor ihre beste Freundin. Doch sie versuchte das beste daraus zu machen, also zog sie fort, um ein neues Leben beginnen zu können. Sie folgte ihren Eltern nach Japan und am liebsten hätte ich auch einfach alles hinter mir gelassen. Also ließ sie mich zurück. Sie musste sich entscheiden, für sich oder für mich und ich nehme ihr ihre Entscheidung nicht übel. Sie hat nur menschlich gehandelt. Ebenso wie ich. Jeder verarbeitet seinen Schmerz anders und das meine Wahl nicht richtig wahr, ist mir nun klar.

Und weißt du was? Heute bin ich schlauer. Ich glaube, du siehst mir von oben herab zu, bist enttäuscht über meine Handlungen, meine kriminellen Aktivitäten, in die ich mich hineingestürzt habe, um alles zu vergessen. Versteh mich nicht falsch, ich wollte niemals dich vergessen, nur die Tatsache, dass du nicht mehr bei mir bist.

Doch Ari, heute an deinem ersten Todestag habe ich einen Entschluss gefasst. Ich werde kämpfen, damit du stolz auf mich sein kannst. Ich werde ein Tagebuch führen, damit meine Gedanken und Erinnerungen mich nicht von innen heraus zerfressen. Da wir im einundzwanzigsten Jahrhundert leben, dachte ich an einen online Blog, was hältst du davon? Ich habe mir auch schon ein Pseudonym ausgedacht. Ich werde mich V nennen, für Victory. Damit beweise ich dir meinen Sieg über meine Vergangenheit, meine grausamen Erinnerungen und meinen Kampf für die Zukunft. Für dich.

Du bist alles für mich, Ari und so wird es vermutlich auch immer sein. Ich denke nicht, dass es je eine Person geben wird, die meine Liebe zu dir toppen könnte, doch sollte es sie mal geben, werde ich ihr diesen Brief zeigen. Ich hoffe sehr, das ist für dich in Ordnung, immerhin ist er an dich adressiert. Aber ich glaube sowieso nicht daran, dass solch ein Mensch überhaupt existiert.
Niemand in meinem neuen Lebensabschnitt wird hiervon erfahren. Von diesem Brief, deinem Verlust oder meinen Erinnerungen. Und falls doch, dann vertraue ich dieser Person wohl mein Leben an. Denn du und meine Erinnerungen seid mein Leben.

In Liebe, dein Taetae

𝐕-𝐁𝐥𝐨𝐠│ᴛᴀᴇɢɢᴜᴋ ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt