Kapitel 15

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Nica


Meine Schritten hallten in den großen Hallen des Flughafens wieder, der um diese unchristliche Uhrzeit kaum besucht war. Es war halb sechs Uhr morgens und ich war mehr als pünktlich. Überpünktlich sogar, aber ich freute mich einfach so sehr darauf, endlich meinen Bruder wieder zu sehen. Ich stoppte bei 6000 Acres und holte mir einen Kaffee sowie einen Schokomuffin, denn mein Magen machte sich so langsam bemerkbar. Unüberhörbar knurrte er und ich befürchtete, dass die Verkäuferin ihn hören konnte, was allerdings eher unwahrscheinlich war, da im Hintergrund das Radio lief. Pink sang Just Like A Pill und ich wünschte mir, dass ich eine Pille hätte, die mich richtig aufwecken würde. Die Fahrt zum Flughafen war schon waghalsig gewesen, da ich dauernd gähnen musste und immer dagegen angekämpft hatte, einfach die Augen wieder zu schließen. Die Nacht war einfach zu kurz gewesen. Viel zu kurz. Aber auch verdammt heiß.

Bei dem Gedanken, dass ich Ian schon um viertel fünf aus dem Schlaf gerissen hatte, überkam mich das schlechte Gewissen. Da wir am Abend zuvor mit seinem Mietwagen unterwegs gewesen waren, hatte er mir versprochen, mich morgens nach Hause zu fahren, wo ich dann in mein Auto umsteigen konnte. Mit einem sanften Kuss hatten wir uns von einander verabschiedet und er hatte mir viel Spaß mit meinem Bruder gewünscht. Nun lag er wahrscheinlich wieder im Bett und schlief sich aus. Beneidenswert.

Mit einem tiefen Seufzer setzte ich mich auf einen der harten Stühle und starrte durch das große Fenster hinaus auf die Start- und Landebahnen. Ich setzte den Pappbecher an die Lippen und trank einen Schluck von dem heißen Gebräu. David. Allein der Gedanke an meinen Bruder reichte aus, um den Ärger, wegen des viel zu frühen Aufwachens, einzudämmen. Achtzehn Monate waren eine verdammt lange Zeit. Noch nie waren wir so lange von einander getrennt gewesen. Höchstens mal eine Woche und selbst dann hatten wir wenigstens einmal miteinander telefoniert. Doch ich hatte jegliche Kontaktmöglichkeiten gekappt. Telefon abgeschaltet und mein E-Mail-Postfach ignoriert. Wie viele Mails würden mich wohl erwarten, sollte ich mich doch mal wieder einloggen? Von meinen damaligen Freunden erwartete ich eher wenig Mails, denn die letzten Monate hatten mir gezeigt, wie oberflächlich mein altes Leben doch gewesen war. Alles hatte sich doch immer irgendwie um Geld gedreht. Wenn ein Kind von Anfang an mit jeglichen Vorzügen des Lebens aufwächst, dann verliert es sehr schnell den Bezug zur Realität. Verliert den Bezug zu all den Dingen, die wirklich wichtig sind im Leben. Sollte ich irgendwann selbst einmal Kinder haben, würde ich sie anders erziehen. Nicht das es mir an etwas gefehlt hatte, jedenfalls nicht an materiellen Dingen. Allerdings hatten uns unsere Eltern auf emotionaler Ebene verhungern lassen. Traurig! Meine Kinder würde ich mit Liebe überschütten. Sie sollten niemals daran zweifeln, wie sehr sie geliebt wurden. Ich würde auch darauf achten, einen Mann zu finden, der wusste, wie man seine Gefühle zeigte. Einen Mann, der ein gefühlloses Arschloch war, würde ich nicht in mein Leben lassen. Noch einen emotionalen Krüppel brauchte ich nicht. Es überraschte mich irgendwie, dass David und ich bei all der gefühlskalten Erziehung so ein inniges Verhältnis zu einander entwickelt hatten. Zwei einsame Seelen, die sich aneinander klammerten, einander Halt gaben und Trost spendeten. David war in meinem bisherigen Leben der einzige Mann gewesen, auf den ich mich wirklich hatte verlassen können. Bisher. Plötzlich erschien Ian vor meinem geistigen Auge. Konnte er der nächste Mann sein, dem ich eines Tages blind vertraute? Ein großer Teil von mir wünschte sich das, aber ein kleiner Teil hatte noch immer Zweifel, wusste nicht, wie es wirklich mit uns weitergehen würde, sobald sein Urlaub vorbei war. Es war einfach schwer vorstellbar, wie wir eine Beziehung über so eine große Distanz aufrechterhalten sollten.

Eine handvoll Menschen machte sich auf den Weg in den Bereich des Flughafen, in dem man die Neuankömmlinge in Empfang nahm. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es inzwischen fünf vor sechs war. Mit einem Lächeln begann ich schnell meinen Muffin zu essen und den Kaffee auszutrinken. Gleich. Gleich würde ich meinen großen Bruder wieder sehen. Gleich würde ich wieder in das Gesicht mit den dunkelgrünen Augen und den Grübchen sehen können. Mein Herz zog sich vor freudiger Erwartung zusammen. Wie wird er bloß auf meine Enthüllungen reagieren? Wird er mir überhaupt glauben oder hatten unsere Eltern mich in den vergangenen Monaten so schlecht gemacht, dass er mir kein Wort glaubte? Schwer vorstellbar, sonst wäre er doch nicht so erleichtert über meinen Anruf gewesen und hätte alles stehen und liegen gelassen, um noch am gleichen Tag in einen Flieger zu steigen und ans andere Ende der Welt zu fliegen, oder? Obwohl ich meinem Bruder vollkommen vertraute, zog sich mein Magen ein wenig zusammen. Das nagende Gefühl der Ungewissheit, der Angst, breitete sich in mir aus. Langsam machte ich mich auf den Weg zu der Menschentraube, die sich vor den Schiebetüren gebildet hatte. Gleich würde auch David durch diese Türen kommen.

Versprochen ist Versprochen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt