Kapitel 9

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Nica


Kaum waren wir von der Fähre runter, schwang ich mich wieder aufs Rad und deutete in die Richtung, in die ich fahren wollte. Ian nickte und folgte mir. In einträchtigem Schweigen fuhren wir eine Weile dahin, bewunderten die Tier- und Pflanzenwelt. Als er zu mir aufschloss sah ich Überraschung und Begeisterung auf seinem Gesicht. Wie ich gehofft hatte, gefiel es ihm ebenfalls. Was gab es an dieser Insel auch nicht zu mögen? Immer wieder sahen wir bunte Vögel in den Büschen und Bäumen oder durch die Lüfte fliegen. Rottnest Island war trotz der Touristen, die täglich vorbei kamen, noch immer ein kleines Paradies. Ich konnte mir gut vorstellen, wie es damals ausgesehen haben musste, als die Insel entdeckt worden war. Überall hüpften die süßen Quokkas herum und näherten sich neugierig den Fremden.

„Du hattest Recht. Es ist wirklich schön hier", stimmte mir Ian zu und strahlte mich an. „Genau das Richtige um abzuschalten und einfach mal die Seele baumeln zu lassen."

Nach knapp einer Stunde, mit diversen kurzen Stopps um den Ausblick zu genießen und damit Ian ein paar Fotos mit seinem Smartphone machen konnte, näherten wir uns dem Ausgangspunkt. Es war noch etwas Zeit bis die nächste Fähre anlegte, also schloss ich mein Fahrrad an einem Geländer an, um ein paar Schritte zu Fuß zu gehen. Ian tat es mir gleich und ich führte ihn über einen schmalen Bretterweg hinunter zum Strand. Wir zogen unsere Schuhe aus, nahmen sie in die Hand und liefen durch den feinen Sand über den Strand. Schweigend setzten wir uns nah ans Wasser und schauten hinaus auf das wogende Meer.

Schon immer hatte ich mir gewünscht am Meer zu wohnen, da ich es einfach beruhigend fand das Rauschen zu hören, die erfrischende Brise und der Duft nach Freiheit. Wie schön wäre es ein kleines Cottage zu haben und jeden Morgen den Kaffee auf der Terrasse trinken zu können, während man den Blick aufs Meer genoss?! Da Dallas im Landesinneren lag und auch das ganze Jahr über warm war, hatte ich mich immer besonders auf die Sommerurlaube gefreut, denn da waren wir für ganze vier Wochen in die Hamptons und nach Martha's Vineyard geflogen, wo wir jeweils ein Ferienhaus hatten. Zusammen mit David hatte ich dann die meiste Zeit am Strand verbracht. Als Kinder hatten wir stundenlang Sandburgen gebaut, Muscheln, Federn und Treibgut gesammelt und waren mit unseren Luftmatratzen und Kajaks im Wasser umher gepaddelt. Später waren wir zum Jetskifahren übergegangen, hatten uns im Surfen versucht – wobei ich kläglich gescheitert war–, ließen uns die Sonne auf den Pelz scheinen oder spielten Beachvolleyball oder Badminton mit den Kids aus der Nachbarschaft. Es war eine unbeschwerte Kindheit gewesen, die viel zu schnell vorbei gewesen war. Sobald David aufs College ging hatten wir nicht mehr so viel Zeit miteinander verbringen können und ich hatte mich zu Hause schnell recht einsam gefühlt, was kein Wunder war, wenn man in einem riesigen Haus wohnte und die Eltern einen meistens ignorierten, da sie sich ständig mit ihren reichen Freunden trafen.

Ian schaufelte stetig Sand über seine Füße nur um dann mit den Zehen zu wackeln und sie wieder zu befreien. „Also Nica aus Texas, was treibt dich in den Westen Australiens?"

Oh man, war der Zeitpunkt gekommen mich auszufragen? Konnten wir nicht einfach noch eine Weile schweigend rumsitzen, dem Rauschen des Meeres lauschen und die umher fliegenden Möwen beobachten? Ich wusste nicht genau, was ich auf die Frage antworten sollte und bisher hatte ich es auch immer vermeiden können meine wahren Gründe preiszugeben. Noch nicht einmal Suki kannte die Wahrheit, obwohl ich ihr vertraute.

„Sagen wir einfach, dass es zu Hause Stress mit meinen Eltern gab und ich die Chance genutzt habe etwas von der Welt zu sehen." Wow, so falsch war diese Antwort gar nicht. Sie war sogar ziemlich nah an der Wahrheit dran.

Er sah mich von der Seite an und schien an meinem Gesicht ablesen zu wollen, ob ich log oder nicht. „Okay. Und was hast du seit dem alles von der Welt gesehen? Ich nehme mal an, dass dein erster Weg dich nicht direkt hier her geführt hat."

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