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  • Gewidmet Anna
                                    

2. September 1989

„Zeit die wir zu verschwenden genießen, ist nicht verschwendet.“

Morgen beginnt die Schule. Ich habe Angst. Angst vor den Leuten, Angst vor den Wänden, die nach dir schreien. Angst vor den Blicken, die sich in mich bohren. Sie kennen mich. Ich bin der komische Typ der immer an dem Grab des 'Ich fahre euch alle in den Tod' Mädchens steht. Sie haben ein gutes Recht dazu. Ich meine, du hast dich in ein Auto gesetzt, hast mächtig Gas gegeben und bist die falsche Ausfahrt runtergefahren, und bist mit Lächeln im Gesicht in die Autos hineingerast.

Es ist klar, dass sie starren. Ich würde auch starren. Denn sie wissen nicht, wie es ist in der Situation zu stecken. Niemand weiß es, noch nicht einmal ich. Ich fühle mich fremd, fremd bei den Menschen die ich liebe. Ich bin mir selber fremd. Mum hat mir ein altes Album gegeben, mit Fotos von mir. Vom Kleinkind bis jetzt. Hab sie mir gestern angeguckt. War keine gute Idee.

Überall waren Fotos von dir, wie du mit mir im Sandkasten Erde gegessen hast, oder als wir unseren ersten Schultag hatten. Es war so schön mit dir. Ich sollte aufhören, ständig zu trauern. Aber es geht nicht. Es ist schon über zwei Monate her, und Mum meint ich soltle eindlich weiter leben, aber als du gestorben bist, ist ein Teil von mir gestorben. Du hattest einen Teil von mir. Und hast ihn einfach mit dir in den Tod genommen.

Jetzt gerade läuft das Radio. Unwichtige Nachrichten. Hier und da ein Krieg, aber niemanden interessiert es mehr. Ich bin zu depriemiert um einen Brief zu schreiben, aber ich muss. Mum will mich nächste Woche zu einem Therapeuten schicken. Sie meint ich sei zu 'depressiv' und 'antriebslos'. Sie versteht es einfach nicht. Sie haben keine beste Freundin die Suizid begannen hat. Sie wissen nichts darüber, wie es sich anfühlt wenn du einen geliebten Menschen verloren hast, ohne zu wissen wieso. SIE WISSEN ES NICHT.

Tränen fallen auf das Blatt und ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr heulen, und ich will nicht mehr der Schwache sein. Ich will nicht mehr von allen Nachbarn angeguckt werden und ich will nicht mehr um dich trauern. Aber man kann es nicht abschalten. Zu Schade.

Ich bin immer noch der einzige der dir die richtigen Blumen ans Grab stellt. Aber sie sind schon etwas weniger geworden. Jetzt sieht man meine Gänseblümchen wenigstens. Wärst du noch hier, hättest du mich wahrscheinlich ausgelacht und mir gesagt:

„Noah, komm schon. Er ist tot. Was vorbei ist, ist vorbei. Ich hoffe doch du trauerst nicht solange um mich.“

Oh doch. Schon zwei Monate. Und ich werde nicht so schnell damit aufhören.

Bei deinen Eltern ist halbwegs wieder Normalität eingekehrt. Sie werden zwar immer noch ausgefragt, und ihre Veranda ist voller Beileids Körbe, aber es geht. Sie lasse niemanden rein, und ich habe Angst zu fragen. Ich will in dein Zimmer. Um noch einmal etwas von dir in den Händen zu halten. Vielleicht ein Foto, ein Buch, oder einfach nur in deinem Zimmer sitzen und mir vorstellen, wie wir hier zusammen gelacht hätten.

Meinst du, sie werden mich in der Schule in Ruhe lassen? Schon in meiner alten Schule war ich der Freak. Wahrscheinlich werde ich hier auch der Freak sein. Der Freak mit der toten besten Freudin.

Mum hat versucht mit deiner Mutter zu reden, aber sie blockt immer ab. Ich glaube sie denkt, wir wollen alle nur wissen wieso. Wieso du die falsche Ausfahrt genommen hast, und wieso du unbedingt so sterben wolltest. Du hast drei weitere Menschen mit in den Tod gerrissen, April. Drei weitere Menschen. Has du nicht nachgedacht? Drei unschuldige Menschen. Oder waren sie laut deiner Meinung nicht unschuldig? Die Namen wurden ein paar mal erwähnt, aber ich habe sie mir nicht gemerkt. Wozu auch, lern ich sowieso nie kennen. Jetzt werde ich wütend. Auf dich, auf das Leben, auf alle. Ich gehe jetzt spazieren.

Noah

Letters to AprilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt