Prolog

412 67 48
                                    

Jahr 1887

Ein vertrauter Geruch schlich sich in ihre Nase. Sie sah zu Boden, ihr Atem wurde schwerer. Schweiß tropfte von ihrem Gesicht und suchte sich langsam einen Weg Richtung Erde. Da stand sie nun, hilflos in der Dunkelheit und ohne jeglichen Orientierungssinn. Die anfängliche Verzweiflung, die sie inmitten dieses Wirrwarrs aus Laub und spitzen Ästen getrieben hatte, war schon lange der Kraftlosigkeit gewichen.

Sie spürte seine Anwesenheit auf ihrer zerschundenen, von der Natur gestempelten Haut. Er musste sich ganz in der Nähe befinden. Jede Faser ihres Körper schrie förmlich nach Bewegung, Flucht. Renn weg. Lauf solange du noch kannst! Doch stattdessen lehnte sich sich gegen eine der vielen Tannen und schnappte keuchend nach Luft. Sie hatte ihre körperlichen Grenzen erreicht, nun konnte sie nur noch beten, dass die Dunkelheit sie verschlucken und vor dem drohenden Unheil retten würde.

Genau ist diesem Moment erlosch der letzte Funken Hoffnung, an dem sie verbissen festgehalten hatte. Der Geruch. Er war unverkennbar. Einzigartig wie ein Fingerabdruck. Die bitter schöne und zugleich furchterregende Mischung aus Tannenzapfen und Erde.

Wie sehr hatte sie den Geruch geliebt, wie oft hatte er dafür gesorgt, dass sie all das Chaos um sich herum für einen winzigen Moment vergessen konnte. Und wie sehr sie sich jetzt wünschte, sie hätte ihn niemals wahrgenommen. Doch nun war es endgültig zu spät für Reue und Stoßgebete, denn es bestand kein Zweifel mehr. Er war hier. Wie immer war er ihr einen Schritt voraus.

»Du musst lernen deine Fehler zu erkennen«, hatte er einmal zu ihr gemeint und sie hatte gelacht und sich nichts weiter dabei gedacht. Die Ironie in seiner Stimme war ihr nie aufgefallen. Umso schlimmer war es nun für sie, die Wahrheit zu erkennen, einzusehen, dass er nie mehr gemacht hatte, als Katz und Maus mit ihr zu spielen. Sie mit Leckereien anzulocken, um sie dann in die Enge zu treiben.

Und nun saß sie in der Falle. Egal wohin sie flüchten würde, er würde sie aufspüren. Ein Gefühl von Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus und ihr wurde schwindelig. Trotz der Dunkelheit sah sie, wie ein Schatten sich langsam in ihre Richtung bewegte. Sie wollte schreien, wegrennen, sich gegen ihn wehren. Doch ihr Körper bewegte sich keinen Millimeter. War nicht imstande etwas anderes zu tun, als gegen den Baum zu lehnen und zu beobachten, wie der Schatten, der eindeutig einer Person angehörte, ihr von Sekunde zu Sekunde näher kam.

Fast hatte sie das Gefühl, sein Gesicht erkennen zu können. Sein schönes, kantiges Gesicht. Seine dunklen Haare, die er stets zusammengebunden trug. Seine smaragdgrünen Augen, die ihr schon immer auf eine gewisse Art und Weise unheimlich waren, denen sie dennoch, naiv wie sie war, vertraut hatte. Noch nie hatte sie sich zu jemanden so hingezogen gefühlt. Sie hatte ihm wie ein blauäugiges Kleinkind alles erzählt, jede Kleinigkeit von ihrem Leben preisgegeben.

Neben der Übelkeit breitete sich nun Wut in ihrer Magengegend aus. Noch schlimmer jedoch war das Gefühl, auf eine grausame Art und Weise hintergangen worden zu sein. Enttäuschung, Trauer und eine Welle von Angst ließen sie zu Boden sinken. Sie fragte sich, wie sie es geschafft hatte sich so lange gegen den Baum zu lehnen und sich halbwegs aufrecht zu halten.

Der Schatten war nun kaum einen Meter von ihr entfernt. Sie hörte seinen schnellen Atem, wahrscheinlich war er ihr rennend gefolgt. Beinahe konnte sie sein triumphierendes Lächeln vor sich sehen. Er beugte sich zu ihr hin, in der Hand hielt er etwas, was sie nicht identifizieren konnte. Für einen Bruchteil der Sekunde schossen ihr eine große Anzahl von Fragen durch den Kopf. Fragen, die sie sich schon so oft gestellt, aber noch nie beantwortet bekommen hatte. Und nun würde sie für immer in Unwissen bleiben.

»Schön das wir wieder zueinander gefunden haben, Josefine.«

Ihren Namen aus seinem Mund zu hören, war wie ein Schlag ins Gesicht. Der Spott, mit dem er ihn aussprach, war deutlich wahrzunehmen. Sie spürte seine Hand an ihrem Arm. Eisige Kälte breitete sich in ihrem ganzen Körper aus.

»Warum?«,flüsterte sie, verstummte jedoch sofort. Sie hatte keine Kraft mehr, um weiter zu reden. Stattdessen spürte sie, wie eine Träne von ihrer Wange tropfte und auf eines ihrer langen roten Haarsträhnen landete. Eine weitere Träne folgte, wurde jedoch von ihm aufgefangen, bevor sie auf die Erde fallen konnte.

»Bringen wir es einfach hinter uns«, sagte er und wischte seine Hand an etwas ab,was ein Tuch zu sein schien. Beinahe hatte sie das Gefühl, etwas wie Verbitterung in seiner Stimme zu hören. Hätte sie die Kraft gehabt,hätte sie sich die Ohren zugehalten und versucht seine Stimme, die sich für immer in ihren Kopf verewigt hatte, auszublenden.

Sie schloss die Augen, nahm den so vertrauten Geruch wahr.

Ein Gemisch aus Tannenzapfen und Erde.

Dann spürte sie gar nichts mehr. Weder Wut, noch Enttäuschung, noch Trauer.


























 Weder Wut, noch Enttäuschung, noch Trauer

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.
Seelenjagd | #IceSplinters18| #bookawardflWo Geschichten leben. Entdecke jetzt