Kapitel 6: Meister und Schüler

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Fünf Monate sind vergangen und ich habe mittlerweile alle Regeln verinnerlicht. "Erstens: Sieh alles und begreife es! Zweitens: Lass dich nicht durch deine Gefühle leiten! Drittens: Versuche nie die Zukunft zu ändern!", trage ich diese Rob vor. Anerkennend nickt er und deutet in Richtung einer Klippe. "Erklimme nun nochmal die Felswand! Danach machen wir für heute Schluss." Nachdem er sich umgedreht und in Richtung unseres Lagers läuft mache ich mich auf den Weg zum Felsen. Anfangs hatte ich Schwierigkeiten hinauf zu klettern, doch mittlerweile schaffe ich die hundert Meter in zehn Minuten. Deshalb wundert es Rob auch nicht, dass ich nach ebendiesen wieder vor ihm stehe. Vom Trainingstag geschafft, setze ich mich gegenüber meines Meisters an unser Lagerfeuer, nehme mir ein Stück Fleisch, spieße es auf und grille es. "Warum lerne ich zu kämpfen, wenn ich so oder so nicht eingreifen darf?", frage ich beiläufig. "Du musst dich verteidigen können. Wir Seher sind sehr begehrt.", sagt Rob und schaut nachdenklich in die Flammen. Ich nicke. Das ist also der Grund, warum wir vor rund einer Woche mit dem Kampftraining angefangen haben. Davor hatte ich nur Training, welches meine Fitness verbessern sollte, und ich lernte meinen Geist so zu kontrollieren, dass ich nur einzelne Gedanken lesen kann.

Alles was ich lernte konnte ich zudem zum Überleben im Wald anwenden. Wir hatten keine Verpflegung mitgenommen und hatten unser Lager deshalb in einer Höhle in der Nähe eines Flusses aufgeschlagen. Ich musste fast täglich jagen, was mir am Anfang recht schwer fiel, mit der Zeit jedoch wurde ich besser und schaffte es auch ab und zu einen Hirsch zu erlegen.
Nun esse ich das Fleisch eines Hirsches, welchen ich vor zwei Tagen erlegt hatte. Es schmeckte nicht mehr ganz so saftig, wie ich es mir auch, ohne in die Zukunft zu sehen, gedacht hatte.
Anschließend lege ich mich auf meine Matte und schlafe nach wenigen Minuten ein.

"LAUF!", ruft mir jemand zu. Ich sehe kämpfende Schatten. Die Stimme wird drängender. "Lauf und berichte, was hier passiert ist!"Ein Schrei ertönt und als ich mich umschaue, entdecke ich das krampfverzerrte Gesicht von Rob. Aus seinem Körper ragen unzählige Schwerter.
"Nein, nein, nein! Was ist hier passiert?", schreie ich im Traum.
Kurz bevor ich aufwache sehe ich ein strahlend weißes Grinsen.

Geschockt schrecke ich auf. Das... das war der Typ aus der Höhle. Ich sehe mich um und entdecke Rob am Feuer. "Du hast es nun also auch gesehen?", fragt er mich bedrückt. Ich schaue ihn entgeistert an. Er weiß davon. Woher? "Du hast meinen Tod gesehen.", erklärt er mir ruhig. Ich kann es nicht begreifen. "Du hast einen Teil der Zukunft gesehen.", sagt er drängender, damit ich es endlich begreife. "Ihr werdet sterben, Meister.", sage ich traurig. Er wusste es schon lange, weshalb er mich so schnell wie möglich ausbilden  will. "Können wir es nicht verhindern?", frage ich verzweifelt nach. "Du kennst die Antwort.", sagt er kopfschüttelnd. Ich kannte die Antwort wirklich. Wir könnten alles verhindern, doch... wir dürfen es nicht. Bedrückt nicke ich. "Wie viel Zeit haben wir noch?" "Eine Woche, höchstens zwei.", antwortet er ruhig. "Dann werde ich ab jetzt Tag und Nacht trainieren.", beschließe ich und atme tief ein und aus. Er nickt kurz, steht dann auf und bedeutet mir ihm zu folgen. Die folgenden Tage sind hart. Ich trainiere viel und schlafe kaum. Doch es lohnt sich, da mir Rob in dieser Zeit viele verschiedene Kampfformen beibringt.

Als ich wieder von einem kurzen Schlaf erwache, sehe ich meinen Meister nirgendwo. Sofort stürme ich aus der Höhle und suche ihn. Hoffentlich passiert es nicht jetzt schon. Verzweifelt sprinte ich durch den Wald und rufe ihn. Keine Antwort! In einiger Entfernung sehe ich ein Licht schimmern. Wie durch Magie werde ich von diesem angezogen und gelange dadurch an eine Lichtung. Dort entdecke ich auch Rob. Doch dieser leuchtet und glüht beim Meditieren. Ich entscheide mich dagegen ihn aus seiner Trance zu holen und will gehen. Plötzlich blicke ich jedoch in die Augen eines hungrigen Bären. Für einen Moment kann ich es nicht glauben und wäre fast von einer Pranke erwischt worden, hätte ich mich nicht aus dem Weg gerollt. Trotz seiner Größe dreht sich der Bär wahnsinnig schnell zu mir. Diesmal bin ich nicht schnell genug und werde vom Bären zu Boden geschleudert. Blitzschnell springe ich auf, um dem mit spitzen Zähnen besetzten Maul auszuweichen. Langsam begreife ich den Ernst der Lage und gehe in eine Kampfposition, die mir hohe Beweglichkeit bietet. Als sich der Bär aber aufrichtet und beinahe doppelt so groß wie ich wird, muss ich schlucken. Er lässt sich mit all seiner Masse nach vorne fallen und greift an. Sofort weiche ich nach links aus und setze zu ein paar Schlägen in seinen Bauch an. Gerade noch rechtzeitig breche ich diese ab, ducke mich und weiche somit seiner Pranke aus. Da sehe ich eine Lücke zwischen seinen Beinen, rolle hindurch und trete ihm beim Hochkommen mit aller Kraft gegen das rechte Bein. Mit einem Schmerzensschrei knickt er leicht ein, fängt sich aber schnell wieder und geht mit noch mehr Wut auf mich los. Seine Pranken prallen mit großer Wucht gegen meinen Block und es beginnt ein schneller Schlagabtausch zwischen uns beiden. Er reißt mir mit seinen Krallen die Haut vom rechten Oberarm und trifft meine Rippen. Ich bekomme keine Luft. Meine Sicht verschwimmt und ich sehe wie der Bär sein Maul aufreißt. Er will es beenden und ich lasse es geschehen.

Plötzlich drehe ich mich blitzartig aus dem Bissfeld und sehe wie mein linker Arm zum Schlag ansetzt. Dieser trifft den Bären von unten am Kinn und ich sehe einen Zahn wackeln. Meine rechte Hand schnellt hervor, umschließt den Zahn und reißt ihn heraus. Anschließend nutzen meine Beine den Bären als Sprungbrett. Nach einem Rückwärtssalto lande ich fünf Meter entfernt mit dem Zahn in der Hand. Wutentbrannt brüllt der Bär mich an, geht auf alle vier Beine und sprintet los. Auch ich meine Glieder machen sich zum Finale bereit. Die Zeit verlangsamt sich, als der Bär auf mich zu springt. Ich lasse den Zahn in meiner Hand herumwirbeln und schlitze ihm die Kehle auf. Kurz darauf stehe ich auch schon neben dem keuchenden Bären. Geschockt sehe ich wie das Tier durch meine Hände stirbt. Traurig sinke ich auf die Knie und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Eine Träne läuft mir über die Wange und ich flüstere, "Was hab ich getan?" Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter und schaue auf. Neben mir steht Rob, der sichtlich bedrückt auf den Bären blickt. "Du hast dich verteidigt und deinem Feind einen schnellen Tod bereitet. Er wird nicht dein einziges Opfer bleiben, denn ein Krieg steht bevor." Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und stehe auf.

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