Mit meinem Rucksack auf dem Rücken gehe ich die beleuchtete Strasse entlang. Es ist mittlerweile 11 Uhr nachts. Ava spielte bis 10 Uhr. Und wie sie spielte, ohne es zu geniessen.
Nach all dem verzog sie sich in ihre Garderobe, rennend, den Geigenbogen fest umklammert in ihrer Hand.
Natürlich verliess sie die Bühne noch ordnungsgemäss.
Ich fegte zu dieser Zeit den zerkratzten Holzboden, Backstage und musste mir von Julie die Pläne der nächsten Woche anhören.
"Die Nächsten zwei Tage hast du frei. Am Dienstag überprüfst du die Lichter und..." währenddessen sie das aufzählte was ich selbst auf einem Plan lesen konnte trat das langhaarige Mädchen aus einer Tür heraus. Bloss mit einem engen und kurzen roten Stück Stoff bekleidet. In ihrer Hand hielt sie schwarze Boots. Und bevor ich länger hinschauen konnte war sie weg, schon wieder.An einem dreckigen Stück Land, auf dem ein bloss paar Autos geparkt sind, angekommen zücke ich meine Motorrad Schlüssel, setzte mir den Helm auf und wenige Augenblicke später fahre ich schon in das Drecksloch was ich einmal mein zu Hause nannte. Fast täglich hört man von einer neuen Schiesserei und ermordeten Gangmitgliedern.
Vor acht Jahren hat man mich hier rausgeholt, nun lebt nur noch meine leibliche Mutter dort. Einmal die Woche besuche ich sie, verbotenerweise. Jedoch nicht lange, nur um das Nötigste abzuliefern und um zu schauen ob sie noch lebt und dies ist kein Scherz. Keiner und ich meine keiner würde es jemals mitbekommen, wenn sie sich eine Kugel durch den Kopf jagen würde, wer auch? Wen hat sie ausser mich?
Eigentlich komme ich nicht nachts, zu Auffällig, zu laut, viel zu gefährlich, einfach... zu alles. Aber ich war diese Woche noch nicht bei ihr, ich konnte diese Woche noch nicht sehen wie sie immer mehr und mehr verrottet in ihrem eigenen Dreck.
Ich biege in eine müllübersäte Strasse ein, die Fassade der nicht angestrichenen Häuser bröckelt ab und die Fenster sind vergittert. Dies war die Gegend in der ich meine Kindheit geniessen konnte, wohl eher nicht.
Es ist erstaunlicherweise ruhig, keiner ist auf der Strasse, nichts ist zu hören. Ob dies gut ist weiss ich nicht. Die Ruhe vor dem Sturm?
Mich nicht irritieren lassend bleibe ich vor ihren verrotteten vier Wänden stehen, steige ab meiner Maschine und gehe zum Eingang des Hauses. Ich zücke meinen Schlüssel aus meiner Hosentasche und öffne die Tür. Diese Tür und alle Fenster sind die einzigen Dinge, im Haus, welche einwandfrei funktionieren. Sie sind immer geschlossen, dreifach.
Ich trete in das dunkle Haus. Doch bevor ich zwei Schritte gehen kann höre ich schon ein klicken direkt an meinem Ohr.
"Verschwinde oder ich schiesse dir in deinen gottverdammten Kopf", flüstert die von Zigaretten und Alkohol zerkratze Stimme.
"Mom, ich bin es." Antworte ich ruhig.
Es ist nicht gewöhnlich, dass sie mir eine Waffe an den Kopf hält, aber ich war auch noch nie Nachts hier.
"Gott, Liam. Mach das nie mehr mit mir und mit dir! Komm nicht nachts, verdammt. Du kleiner Hosenscheisser." Sagt sie ernst, doch ich höre auch wie erleichtert sie doch ist.
Ich bücke mich etwas und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Ihre Kleidung riecht nach Schweiss und Rauch. Vor einem halben Jahr noch hätte es nach Alkohol gemüffelt.
"Ich habe einen Liter Milch, Brot und Honig für dich. Geht der Eisschrank wieder?" frage ich und gehe in die Küche.
Geschirr stapelt sich im Waschbecken, soweit ich es in der Dunkelheit erkennen kann.
"Ich habe keinen Strom?" Sie ist nicht beschämt, über diese Grenze sind wir schon viele Jahre hinaus.
Janet, so heisst sie, arbeitet, ab und an, in einem alten Diner hier in der Nähe und wenn sie nicht arbeitet vergammelt sie im Bett und bezahlt die Stromrechnung nicht.
Es macht mich traurig sie so zu sehen, jedoch kenne ich nichts anderes. Dies war meine Kindheit und noch viel mehr. Trotzdem hat sie mich immer beschützt und versucht so gut es eben ging mich gross zu ziehen. Irgendwann war es aber einfach nicht mehr genug.
"Wo ist die Rechnung?" frage ich etwas gestresst, ich kann nicht allzu spät nach Hause kommen.
Sie zuckt mit den Schultern. Was ich bloss sehe, weil sie sich eine Zigarette anzündet.
Was ist bloss aus dir geworden? Wann hat das angefangen? Als ich zur Welt kam?
"Mom, was... warum... ich..." Ich gebe auf, für heute. "Ich muss los. Nächste Woche komm ich tagsüber und bleibe länger. Suche die Rechnung und räume auf." Manchmal frage ich mich wer von uns das Kind ist.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen oder ihr noch ein letztes Mal in die Augen zu sehen gehe ich. Ihre Augen bleiben gleich, leer und ohne Leben. Warum sollte ich also hinschauen?
Obwohl ich mir das gewohnt bin kotzt es mich an. Am liebsten würde ich die Situation verändern. Aber wie nur? Ich bin doch das Kind... oder war es.
Bei meinem richtigen zu Hause, einem zu Hause welches ich mehr als schätze, angekommen schleiche ich mich möglichst leise ins Haus. normalerweise schläft um diese Uhrzeit jeder. Sie warten nicht auf mich. Sie vertrauen mir, meine Familie. Sie vertrauen darauf, dass ich nach der Arbeit sofort zu ihnen zurückkomme.
Ich trete in das grosse hellgelb gestrichene Haus mit einem Garten voller bunten Blumen. Ein Haus voller Leben, Liebe und Freude. Etwas über das man sich nicht beklagen kann und ich nie werde.
Das erste was man sieht, wenn man hinein tritt ist ein kurzer Korridor mit vielen Bildern an den Wänden und einer Garderobe vollgehängt mit Jacken und Taschen. Auf dem Boden sind fünf paar Schuhe verteilt, mit meinen sechs.
Wenn man weiter geht tritt man direkt ins grosse Wohnzimmer welches jeden Abend voller verschiedener Leute ist. Von meinen, Chris und Nathans Freunden bis zu Suris Freunden und die Freunde von Jackie und Zachary, meine Adoptiveltern.Doch jetzt, in diesem Moment, sitzt bloss ein rosahaariges Mädchen auf einem dunkelblauen Sessel, schlafend. Suri, sie ist meine kleine Schwester. Auch sie wurde von Jackie und Zachary adoptiert.
Ich greife mit einer Hand unter ihren Nacken und mit der anderen stütze ich ihre Beine. So trage ich das 14-Jährige Mädchen in ihr Zimmer. Ihre von Farben befleckten Hände liegen Ruhig auf ihrem Bauch.
"Du warst bei ihr", stellt sie im Halbschlaf fest.
Suri ist die einzige neben Chris die etwas davon weiss. Nicht das ich wollte, dass sie es mitbekommt aber als Chris und ich deswegen stritten, hörte meine kleine Künstlerin zu.
Es gefällt ihr nicht.
"Mach dir keine Gedanken darüber."
Ich öffne ihre Zimmertür mit einem sanften Tritt und lege die kleine Gestalt in die Mitte des Bettes. Kaum auf weichen Grund kuschelt sie sich schon in die Decke und schläft ruhig weiter.
Vielleicht sollte ich wirklich mit den Besuchen aufhören, sie bringen nichts ausser Frustration und ich habe eine Familie. Eine Familie die mehr für mich getan hat als mein Blut. Vielleicht sollte ich dies mehr schätzen, alles was ich im Moment habe und aufhören eine Vergangenheit wieder gut zu machen für die ich nicht verantwortlich war. Ja, ich sollte... aber können tue ich es nicht. Sie ist nichts desto trotz die Frau welche die ersten zehn Jahre meines Lebens meine Hand hielt wenn ich sie brauchte.
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The Girl I Love
Ficção AdolescenteZwei Menschen, zwei Welten, zwei Geschichten - Welche unterschiedlicher nicht sein könnten. Ava, ein Mädchen welches scheinbar alles hatte jedoch das wichtigste verlor trifft auf Liam. Ein Junge der für eine lange Zeit nichts geschenkt bekam in sein...