11 - "Gibt's Freiwillige?"

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Der heutige Morgen fing für ganz New York grau und trüb an. Eine Hochnebeldecke hatte sich über unsere Stadt gelegt und mich schon in früher Morgenstunde an das Grauen erinnert, dass mich heute erwarten würde. Das Wetter passte sich also meine Stimmung an. Es ist Montag, und Montags haben Zayn und ich, immer bei dem selben Dozenten, eine gemeinsame Vorlesung. Als Letzte betrete ich mit klopfendem Herzen den Saal, um gleich in eine der Hintersten Reihen zu flüchten. Doch während ich mich vor Mr. Kuss und dann Schluss in Sicherheit bringe, stellt sich schnell heraus, dass er gar nicht da ist. In der letzten Reihe, tief in meinem Stuhl versunken, halte ich Ausschau nach ihm. Doch er taucht einfach nicht auf. Die Türen werden geschlossen und unser Dozent ergreift das Wort.

"Wie bereits angekündigt, werden sie sich während ihres Studiums noch sehr mit der englischen und irischen Literatur und Kultur seit der Renaissance, insbesondere in den Bereichen Drama der Shakespeare-Zeit auseinandersetzten.", berichtet mein Dozent mit voller Begeisterung.

Ich wünschte ich könnte genau so begeistert sein wie mein Prof, doch dieses Gefühl bleibt mir leider verwehrt. Ich mag Shakespeare eigentlich, aber ich habe so schlechte Laune, das ich mich gar nicht über das Thema freuen kann. Ach und die Sache mit der Konzentration kann ich auch  gleich an den Nagen hängen. Ich muss andauernd daran denken was letzten Samstag zwischen Zayn und mir vorgefallen ist. Es raubt mir noch den Verstand. Unentwegt suche ich nach Antworten, auf mindestens tausend Fragen, doch ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Die Erinnerung an diesen Kuss ist noch so greifbar, als wäre es erst Minuten her. Doch leider hat sich nicht nur der Kuss tief in meinen Gedanken verankert, sondern auch der Teil der darauf folgte.

Ich hätte das nicht tun dürfen.

Nur kleine Fetzten des Gesprochenen dringen zu mir durch, ehe ich wieder abschweife um meinen Gedanken zu lauschen. ".. Dramatiker, Lyriker und Schauspieler. Seine Komödien und Tragödien gehören zu den bedeutendsten Bühnenstücken der Weltliteratur und .."

Was Zayn wohl damit gemeint hat? Und ausgerechnet jetzt, wo ich mir nicht mehr sicher bin ob ich das überhaupt will, entscheidet er einfach so, dass er mich ab jetzt in Ruhe lässt. Andererseits vielleicht ist es besser so, ich habe schliesslich genug über das ich mir den Kopf zerbrechen kann.

".. etwa 8 Jahre, also von 1584/85 bis 1592, die in der anglistischen  Literaturwissenschaft häufig als 'verlorenen Jahre' bezeichnet werden. Und darüber werden zwei von ihnen Recherchen anstellen, die sie uns beim nächsten mal, in Form einer Präsentation vortragen werden."

Augenblicklich hat mein Dozent die volle Aufmerksamkeit aller Studenten in diesem Raum, meine eingeschlossen. Ich hasse Vorträge! Und was soll das überhaupt? Hier vorne zu reden und uns was beizubringen ist sein Job und nicht unserer. Unser Prof nimmt eine Glasschale vom seinem Pult, die gefüllt ist mit kleinen weissen Zettelchen. Losen.

"In den beiden Semestern die sie mit mir haben, wird jeder von Ihnen einmal an der Reihe sein. Sie werden zu zweit arbeiten und von ihnen wird professionelle und saubere Recherche erwartet." Leises Raunen erfüllt den Raum. Einige wirken gelangweilt, manche ängstlich und nicht gerade wenige hinterlassen den Eindruck, ihm am liebsten vor die Füsse zu kotzen. Ich gehörte zu letzterer Personengruppe. So ein fauler, alter Sack!

"Also..", scheinbar aufgeregt klatscht er in die Hände. "Gibt's Freiwillige?"

Stille.

Mr. Bryson rückt resigniert, eine braune und für sein fülliges Gesicht viel zu kleine Brille zurecht. "Na gut, dann losen wir eben aus."

Kaum vernehmlich öffnet sich die grosse braune Tür im Eingangsbereich. Ehrlich, es wäre fast nicht aufgefallen, wenn da nicht dieses unüberhörbar Knarzen gewesen wäre. Eine altgewohnte Gestalt, betritt lässig den Saal. Also wirklich, lernt dieser Kerl denn eigentlich nie was dazu. Wieso benutzt er denn schon wieder die Tür im Eingangsbereich? Wie so oft, hat er die Lederjacke über die Schulter geworfen und den Mund zu einem frechen Grinsen verzogen. Seine Augen schweifen durch die Menge. Einige Mädchen in den mittleren Reihen quetschen sich zusammen, um ihm einen Platz freizuschaufeln. Unwillkürlich verdrehe ich die Augen. Doch als Zayn's wachsamer Blick mich streift, tue ich keinen Wank. Seine oberflächliche Fassade scheint zu bröckeln, wie der Putz einer alten Mauer, aus einer längst vergangenen Zeit.

"Mr. Michaels, nicht wahr?", erkundigt sich unser Dozent und unterbricht somit unseren seltsamen Moment. Zayn bestätigt seine Frage nur mit einem schlichten Nicken.

"Na dann gratuliere ich ihnen. Sie sind unser Freiwilliger." Die meisten betrachten ihn mitleidig. Doch nicht ich, mich ergreift das Gefühl der Schadenfreude.

"Freiwilliger wofür?", erkundigt Zayn sich ungerührt.

"Sie halten nächstes Mal mit jemandem eine Präsentation, über die verlorenen Jahre Shakespeares."

"Meinetwegen." Zayn streicht sich desinteressiert eine Falte aus seinem schwarzen Shirt.

Mr. Bryson läuft rot an. Mühevoll versucht er zu verstecken, wie sehr es ihn anpisst, dass er Zayn damit keine Strafe auferlegt. Genervt streckt er ihm die Glasschale entgegen. "Ziehn sie ihren Partner."

Er schlendert gemächlich und als hätte er alle Zeit der Welt, Richtung Saalmitte. Die Hand vergräbt er tief in der Schale und wühlt darin herum. Ebenso lange. Mr. Bryson schnalzt genervt mit der Zunge und leises Lachen erfüllt den Raum.

"Mr. Michales?"

"Ja Mr. Braston?" Dieses Mal geht lautes Gelächter und Getuschel durch die Sitzreihen, doch Zayn tut vollkommen unbeteiligt.

Kochend vor Wut streicht Mr. Bryson sich über die glänzende Stirn. Er tut mir Leid. Ich erinnere mich noch bestens daran wie das ist. Zayn hat eine unglaubliches Talent dafür, in einem Menschen, mit verdammt wenig, wirklich viel Scham auszulösen.

Doch Mr. Bryson fängt sich wieder. Etwas das ich früher nie gekonnt hätte. "Bitte noch bevor ich an Altersschwäche dahin scheide."

Nach einer scheinbaren Ewigkeit fischt er einen Zettel aus der Schale und faltet ihn auseinander. Er liest den Namen und stösst einen tiefen Seufzer aus. "Kann ich bitte nochmal ziehen?"

"Nein Mr. Michaels, Sie haben gewählt." Er entzieht ihm den Zettel, liest ihn und setzt zum Sprechen an. "Ihre Partnerin ist Haley Borden und jetzt setzten sie sich, ich würde gerne fortfahren."

Langsam lasse ich mir seine Wort durch den Kopf gehen.

Ihre Partnerin ist Haley Borden. Von der Woge der Erkenntnis erfasst, steigt Übelkeit in mir auf.

Ach du heilige Scheisse!

Zayn und ich würden und zusammensetzten und mit den verlorenen Jahren Shakespeares beschäftigen müssen. In Anbetracht dessen, dass wir uns geküsst und er mich danach ohne weitere Erklärung abserviert hatte, wusste ich, dass ein Schlachtplan her musste.

Ich brauchte Eliot, oder ich war aufgeschmissen!

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