Die Musik beginnt und schon rollen die ersten Tränen. Nicht bei uns. Also, nicht wirklich. Nicht bei Chris und mir. Ich glaube, ich spreche für uns beide, wenn ich sage, dass es uns tatsächlich peinlich ist, hier zu sein. Hier zu sein, das ist unangenehm. Aber wir konnten nicht anders. Wir mussten. Ich sitze mit Chris in der ersten Reihe. Ganz vorne. Wo wichtige Menschen sitzen sollten. Wir sind nicht wichtig. Nicht hier! Ich schaue hoch. Anteilnahme zeigen. Wir sind hier falsch. Aber warum sind wir dann hier? Wie konnten wir absagen! Wie? Ich drehe mich kurz zu Chris. Was machen wir hier bloß? Sitzen und zuhören? Was macht einen mehr fertig? Die ganzen weinenden Menschen oder die lieben Worte des Pfarrers, der dort vorne steht? Ich glaube, Chris hat es jetzt auch erwischt. Mit roten und glasigen Augen sieht er mich an. Schweigt, sagt nichts. Knoten im Hals. Nichts sagend nehme ich seine Hand. Ab da ist es dann auch um mich geschehen. Tränen purzeln vereinzelt über meine Wangen. Der Kloß im Hals, ja, er wird unerträglich. Chris drückt meine Hand. Was ein Bruder. Bin ich froh, dass er bei mir ist. Was für ein weinen um uns herum. Aber sind zusammen die ‚Ehrlich Brothers'. Zusammen. Das machen wir hier auch zusammen. Wir beide. Für sie. Und darüber bin ich froh. Ihn hier zu haben. Erleichtert auch. Ich schließe meine Augen. Ich bin gerührt. Ich meine, wir kannten sie nicht mal. Umso bedeutender, dass wir hier sind. Aber scheinbar kannte sie uns. Wusste wohl alles. Ihre Eltern nannten sie vorhin eine komplett verrückte Person. Eine liebe verrückte Person. Ein Fangirl. Mit Mut.
In den Stimmen der Eltern hörte ich jedoch auch die schwerwiegende Trauer. Die Wut, die pure Verzweiflung. Den Schmerz. Ich öffne meine Augen wieder. Ein schwacher Tränenschleier versperrt mir die klare Sicht. Die Sicht auf sie. Es ist nur ein Bild. Ein Bild von ihr. Ein Bild. Ich kann nicht lange hinsehen. Irgendwie tut es irgendwo weh. Ich kannte sie nicht mal! Chris' Hand wird langsam schwitzig. Ich lasse ihn los und er wischt sich seine Hände an seiner Hose ab. Eine Hose, wie man sie jeden Tag trägt. Im Prinzip tragen wir unser Showoutfit. Nur nicht so krass gestylt. Eher schlicht. Für unsere Verhältnisse. Schlicht. Der Pfarrer spricht immer noch. Sind es gerade nur Sekunden gewesen? Sie war erst sechzehn. Und schon... Mit sechzehn... Ihre Eltern... Es tut mir leid, auch wenn ich nichts dafür kann. Ich möchte es mir gar nicht vorstellen. Ich bin auch Vater, was mache ich bloß, wenn meine Kinder...? Wie mag es sein? Sein Kind verlieren? Was laden sich die Eltern wohl für Schuldgefühle auf? Und dann die Tatsache, dass... Einfach nur, schlimm. Ich richte meinen Blick stur nach vorne. Der Pfarrer kündigt ein Lied an. Singen tun jedoch nur wenige. Keiner. Kaum einer. Wenige. Nicht viele. Die Eltern weinen. Direkt neben mir. So schwer und fast hätte ich sie einfach in den Arm genommen. Aber ich traue mich nicht. Ja, Ehrenwort! Davor habe ich Angst. Ein fremder Mann zeigt so viel Anteilnahme, dass er die Eltern in den Arm nimmt? Quatsch. Denke ich. Ein kurzer Blick zu Chris. Auch er ist am Boden zerstört. Ja, so langsam kriecht es in einem hoch. Und wir singen ein Lied. Kaum einer singt. Zu viele weinen einfach nur.
Plötzlich nehme ich das Liedblatt. Und ich singe. Für sie. Nicht gut, aber laut genug. Um das weinen zu übertönen. Mit der Zeit werde ich lauter. Für sie. Meine Stimme durchbricht das schluchzen. Auch Chris greift schließlich zu seinem Liedblatt. Er beginnt zu singen. Zusammen, ab der nächsten Strophe. Die Eltern von ihr sehen uns an. Verweint, mit den Nerven am Ende. Aber wir singen gemeinsam tapfer weiter. Und dann sehe ich zur Mutter. Ihre Augen. Voller Schmerz und Angst. Offen und ohne Scheu biete ich ihr meine Hand an. Sie zögert eine Sekunde, doch dann legt sie ihre zarte zitternde Hand in meine. Schüchtern lehnt sie sich kurz an mich und weint bitterlich. Neben mir singt Chris tapfer das Lied, während ich in meinem Rücken die Menschen schluchzen höre. Vorsichtig drücke ich die zarte Hand. Es dauert nicht mehr lange, glaube ich. Dann erklingt auch schon das Ausgangslied. Die Menge steht auf. Erhebt sich. Ehrenvoll. Ihr zu Ehren. Die Hand der Mutter lasse ich los. Sie schmiegt sich schluchzend an ihren Mann. Ich schluchze auch. Vier Männer erscheinen. Gehen zum Sarg. Da liegt sie drin. Es ist ein Eichensarg. Wunderschön, mit Blumen bemustert. Die Männer verneigen sich vor dem Sarg. Bei mir laufen die Tränen. Dann sinken sie kurz in die Knie und dann heben sie lautlos den Sarg hoch. Als wäre er leicht, wie eine Feder. Nicht als läge dort ein junges Mädchen drin. Die Eltern folgen dem Pfarrer, der langsam hinter den Männer hergeht. Chris bietet mir seinen Arm und ich hakte mich ein. Mit gesenktem Blick schleichen wir lautlos aus der Kirche. Überall hört man die Menge schluchzen. Den Kieselsteinweg entlang. Die knirschen unter den Schuhen. Alles ist vergänglich... Wir folgen bloß. Wie wichtige Menschen. Und es ist ein eigentlich kurzer Weg, doch er zieht sich unheimlich. Chris und ich schnappen nach Luft. Wir sind da. Wir kommen zum Stehen. Ich wage einen Blick über meine Schulter. So viele Menschen. Für sie. Wen kannte sie bloß alles? So viele Menschen, wegen ihr hier. Die letzte Ehre erweisen. Wie aufrecht. Wie ehrlich. Ich sehe, wie der Sarg in das Loch gelassen wird. Vorsichtig, in Ruhe. Friedlich. Was muss jetzt in den Eltern vorgehen? Wie fühlen sie sich jetzt? Ich wünschte, ich könnte einfach gehen. Nein, ich bleibe. Natürlich. Höflich. „Aus der Erde sind wir gekommen, zur Erde sollen wir wieder werden. Asche zu Asche, Staub zu Staub.", spricht der Pfarrer. Ich schlucke schwer. Dass es so schwer ist? Wer wusste das schon? Die Eltern treten vor. Es gibt keine Beileidsbekundigungen. Nicht öffentlich. Und doch bleiben sie am Grab stehen. Nehmen die lieben Worte an. Es tut mir so leid. Aber was kann ich ändern?
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Magical Storys ~ Oneshotsammlung
FanfictionWeil mir die Oneshots auf meinem Profil zu viele waren, dachte ich mir, ich packe alle einfach in ein Buch. Willkommen in meiner Oneshotsammlung! Notausgänge finden Sie zu Ihrer Linken! Und Kotztüten gibt es aus finanziellen Gründen nicht.