Heaven's Ways

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„Ich fasse es nicht." Eine Stimme so gebrochen, wie noch nie. Eine Stimme so verzweifelt, wie noch nie. Eine Stimme so traurig, wie noch nie. Eine Stimme so erschöpft, wie nie. Ein Seufzer. Ein Atemzug, eine kurze Auszeit aus dem Leben. „Nie hätte ich das gedacht." Eine Bewegung in Zeitlupe. So langsam, so bedächtig, so ruhig. Das gestresste ausatmen, das hoffnungsvolle einatmen.

Unter Anspannung halte ich die Luft an. Ich beiße mir auf die Lippe. Irgendwie ganz fest und doch spüre ich nichts. Jedenfalls solange nichts, bis ich den leichten metalligen Geschmack schmecken kann. Dann erst lasse ich locker. Den Oberkörper nach vorne gebeugt und meine Arme auf die Beine gestützt. Der Stuhl ist nicht sehr bequem. Eher im Gegenteil. Doch hier sollte man es besser bequem haben. Bis man manchmal etwas von den Ärzten hört können Stunden vergehen. Immer wieder wippe ich mit den Beinen und Füßen. Ich kann einfach nicht still sitzen. Sitzen ist schon ein guter Anfang. Wenigstens renne ich nicht herum, wie ein aufgescheuchtes Huhn. Das könnte ich auch genauso gut tun, wie gleich komplett durchdrehen. Aber ich muss mich beruhigen. Wenn das so einfach wäre. Ich muss mich benehmen, das trifft es wohl eher. Nervös fahre ich mir durch die Haare. Warum dauert es so lange? Das heißt nie etwas Gutes!

Auch wenn ich mich hier gerne irren würde. So gern, wie nichts anderes zurzeit. Nun stehe ich doch auf. Stehe auf, drehe mich um und schaue in bekannte Gesichter. Zwei Gesichter. Mama und Kai. Zwei Gesichter, die sich sehr ähnlich sind. In beiden kann ich Angst sehen. Sorge, Hoffnung, Verzweiflung und totale Verwirrung. Bei mir dürfte es nicht anders sein. Doch in Kais Gesicht ist etwas anders. Über seinem Auge klebt ein Pflaster. Er sieht blass aus. Müde und geschlaucht. Er sieht aus, als wäre er ein Zombie. Dunkle Ringe unter den Augen. Ich könnte genauso aussehen. Schnell schließe ich meine Augen. Die bösen Gedanken verdrängen. Doch kaum habe ich meine Augen geschlossen, da sehe ich alles vor mir. Alles was ich in den letzten Stunden gesehen habe. Und eine Person sehe ich so oft. Bruder...

Noch nie sind meine Augen so schnell wieder auf gewesen. Kai erhebt sich von seinem Stuhl. „Soll ich mal nachfragen gehen?", will er wissen. Doch ich schüttle den Kopf. „Ruh dich lieber aus. Auch du hattest gerade einen Unfall.", flüstere ich leise. Aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, wie Mama den Kopf sinkt. Tja, Leute. Schnee ist eben beschissen. Und da brauche ich mich gar nicht zusammenreißen. Es ist wie es ist und das ist eben scheiße. Ich lege eine Hand auf Kais Schulter. „Setz dich. Ich frage nach.", lächle ich ihn schwach an. Auch an mir zerrt das Ganze langsam. Ich weiß allerdings auch nicht, was man dagegen machen könnte. Tief Luft holen und dann gesammelt ausatmen? Kai nickt mir vorsichtig zu. Dann schlägt er den Weg zum Stuhl ein. Ich warte noch, bis er sich auch wirklich setzt und dann nehme ich meinen Mut zusammen. Meine Beine bewegen sich von allein und ich befinde mich plötzlich am Empfang wieder. Wie war das noch? So geht Teleportation. Aua, ein Stich ins Herz. Direkt ins Herz. Ohne Warnung. Das ist echt unfair. Vieles im Leben ist unfair. „Hallo, ich wollte mich nur kurz nach meinem Bruder erkundigen. Wissen Sie da schon etwas?", frage ich dann eine nette junge Dame. Sie lächelt mich lieb an. „Wie heißt denn Ihr Bruder?", stellt sie eine Gegenfrage. Ich schlucke. Oh mein Bruder. Noch nie ist mir sein Name so schwer über die Lippen gekommen. Heute ist es schwer. Schwerer als jemals in meinem ganzen Leben. „Ich werde mich erkundigen. Setzen Sie sich ruhig wieder. Ich komme dann zu Ihnen." Sie nickt mir noch einmal zu und verschwindet dann. Ich brauche jedoch noch einen Moment, bis mir ein „Danke." über die Lippen kommt und ich mich wieder zu meinem Platz begebe. „Und?", werde ich sofort gefragt. Ich zucke mit den Schultern. „Sie kommt gleich und sagt es uns dann.", erkläre ich und setze mich neben Mama. Sie ist so still und schaut nur zu Boden. Wie gerne würde ich ihr sagen, dass es ihm gut geht, dass das hier alles nur ein blöder Traum ist und wir jeden Augenblick aufwachen. Es ist nicht real. Nicht wirklich. Ein Traum. Ich vermute, das macht die Angelegenheit einfacher. Macht das Problem kleiner. Erschöpft lehne ich mich zurück. Mama greift vorsichtig nach meiner Hand. Und dann umschließe ich meine ganz fest um ihre. Drücke sie fest. Gebe ihr so ein bisschen Halt. Halt, den ich selber gut gebrauchen könnte.

Nach einigen Minuten sehe ich auf. Ein Schatten hat sich vor uns gestellt. Ich erkenne die Frau vom Empfang wieder. Neben ihr steht ein Arzt. Er sieht genauso fertig aus, wie wir uns fühlen. „Familie von Herrn Reinelt?", werden wir gefragt. Und wir nicken. Ob Kai auch genickt hat, weiß ich nicht. Aber zur Familie gehören sie alle. Gehörten sie alle. Wir müssen mal schauen, wer noch da ist. Kai sagte mir, einige wären gut nach Hause gekommen. Andere auch auf Station. Aber Kai ist der einzige, der mit uns hier unten sitzen kann. Obwohl auch er eigentlich nicht hier sein sollte. Doch er ließ es sich nicht nehmen. Zwingen konnte ich ihn nicht. Der Arzt stellt sich als Dr. Bähren vor. Ich wundere mich noch über den Namen, aber er spricht schon lange weiter. Der Name klingt doof. Aber niemand kann etwas für seinen Namen. So versuche ich wieder zu zuhören, was er sagt. Es scheint wichtig. Es ist wichtig! Es geht um meinen Bruder. Mama neben mir sinkt in sich zusammen und ich weiß nicht, was ich gehört habe. „Ich will zu ihm!", rufe ich aus. Dr. Bähren nickt. Auf was habe ich mich nur eingelassen? Auf was? Was wird mich erwarten? Und warum lehnt sich Mama gerade an Kai an? Sie weint so schrecklich und ich habe eine Vermutung. Aber mein Kopf schaltet das alles noch aus. Stellt es hinten an. Erst wenn ich etwas sehe, mache ich mir ein Bild. Erst dann werde ich heulend zusammenbrechen.

So folge ich der Schwester, die mich zu ihm bringen soll. Und je näher wir kommen, desto mehr schmerzt mein Magen. Die Augen brennen fürchterlich, aber was will man machen? Dann lässt sie mich in einen Raum. Dinge, Worte, Gesten. Alles rauscht nur so an mir vorbei. Als ich ihn sehe. Mir wird schlecht. Ich vermute, ich muss mich übergeben und doch wage ich mich näher heran. Schwer verletzt liegt er da. Mein Bruder. Ich stelle mich an seine Seite. Er sieht blass aus. Blutet aus der Nase. Sonst hat er einige Schnittwunden im Gesicht. Den Rest will ich mir gar nicht antun. So gebe ich mir Mühe nicht hinzuschauen. Mein Bruder. Ich beginne zu zittern. Mein Bruder! Meiner! „Es tut mir so leid...", hauche ich. Ob es meine Schuld ist? Ich weiß es nicht. Ich beuge mich zu ihm hinunter und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn. Doch anstatt mich wiederaufzurichten, verharre ich in dieser Position und löse mich nicht von meinem Bruder. Ob es meine Schuld war? „Ich habe gesagt, wir wechseln...", flüstere ich und mir laufen die Tränen nur so über das Gesicht. Warum haben wir dieses System entwickelt? Damit am Ende einer hier steht. Jetzt bin es. Jetzt stehe ich hier. Und ich werde auch in Zukunft stehen. Nur ich. Er nicht mehr. Mein Herz zieht sich zusammen.

Ich bin schuld. Ich habe ihm zugestimmt, dass wir heute die Busse tauschen, weil ich eher Zuhause sein wollte. Weil ich nur an mich gedacht habe. Wir schlafen jede Nacht sowieso in getrennten Nightlinern. Nur für den Fall. Jetzt ist so ein Fall. Einer hat es geschafft, einer nicht. Warum nicht ich? Jederzeit würde ich tauschen! Ich bin schuld, ich habe ihn in mein Bett gelassen. Ich habe ihm gesagt, dass es okay ist, wenn wir tauschen. War es nicht. Kann ich es bitte zurücknehmen? „Ich hätte... an deiner Stelle... hier liegen müssen...", schluchze ich. Jetzt hat es ihn erwischt. Meinen Bruder. Ich habe es zugelassen. Verdammt, Bruder...

„Scheiße...", schniefe ich und versuche mich irgendwie nah an ihn zu schmiegen. Doch er ist nur kalt. Still und kalt. Von seiner wärmenden Liebe fehlt jede Spur. „Bruderherz... Bitte..." Ich weiß, dass er mich nicht hören kann. Aber die Hoffnung stirbt zu letzt. „Bitte, Chris, nein..." Aber sie stirbt auf jeden Fall auch. Die Hoffnung. Wie es sich anfühlt seinen kleinen Bruder zu verlieren? Kann ich nicht beantworten. Habe ich verloren, kann ich nicht beantworten. Ist ein nichts. Ein war ein dummes System. Furchtbar. Was machen wir nun? Verzeihung, was mache ich nun? Mache ich überhaupt etwas? Vermutlich nicht. Ich drücke mich fest an ihn, habe meine Augen geschlossen und als ich dann zwei starke Arme von hinten spüre, die sich um mich schlingen, da sinke ich einfach nur auf den Boden.

Scheiße, Chris hat's erwischt.


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