Menschliche Tiefpunkte

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Alle im Saal erheben sich. Ich zitternd, meine Familie hinter mir angespannt. Wir sind alle nervös und keiner möchte noch länger warten. Ich am wenigsten. Mein Blick ist starr nach vorne gerichtet. Immer wieder spielen sich die Sätze in meinem Kopf ab. „Es war ein Unfall!" Ich schließe kurz meine Augen. Vielleicht füllen sie sich so nicht mit Tränen. Doch es ist schon zu spät. Als ich sie wieder öffne, da sehe ich vor mir alles nur verschwommen. Wie oft habe ich mich entschuldigt? „Da kommen Sie...", werde ich von der Seite angesprochen. Ich zucke zusammen und wage es doch nicht meinen Kopf zu drehen. Nur nach vorn schauen. Dann wird alles gut. Alles wird wieder gut. Ich sehe sie kommen. Aus dem Augenwinkel kann ich es sehen. Sie haben sich entschieden. Ich möchte mich irgendwie setzen. Meine Beine halten mein Gewicht nicht mehr. Und nicht nur das. Mir ist so unfassbar schlecht. Die Luft ist viel dünner geworden in den letzten Sekunden. Ich kann kaum mehr atmen. Es geht hier um mein Leben! Sie setzen sich nicht. Sie stehen. Genau wie alle anderen im Raum. Es ist keine öffentliche Verhandlung. Und doch sind recht viele Menschen hier... Wie sie mich alle anschauen. Als wäre ich ein Monster. Als wäre es meine Schuld. Doch was soll ich sagen? Zu meiner Verteidigung?

Ich stehe hier. In Handschellen. Angeklagt. Und ich weiß nicht, was noch passieren wird. Aber es stehen schon alle an ihren Plätzen. Eine Frage der Zeit. Ich schlucke. Eine Sache von Sekunden. In meiner Angst vernehme ich dann diese Stimme. „Ich verkünde im Namen des Volkes folgendes Urteil. Der hier angeklagte Andreas Reinelt ist schuldig der gefährlichen Körperverletzung mit Todesfolge..." Autsch. Es ist ein Schlag in die Magengrube. Ich senke den Blick und plötzlich sehe ich gar nichts mehr. Alles ist verschwommen. Die Tränen laufen nur so über meine Wangen. Dicke Tränen. Viele Tränen. Bloß nicht zusammenbrechen. Hoffentlich nicht. Ich lasse die Schultern sinken und werde ganz klein. Wie war noch der Satz, der sich bis vorhin in meinem Kopf aufhielt? Mein Anwalt sucht sich seine Sachen zusammen und dreht sich weg. Er schüttelt den Kopf. Er kann es scheinbar nicht verstehen. Die restlichen Worte der Richterin verstehe ich nicht. Es ist nur ein Rauschen um mich herum. Nichts anderes. Ein Murmeln, ein Knistern, ein Rascheln. Ich kann immer noch nicht fassen, was gerade passiert ist. Wir setzen uns und ich sehe endlich wieder hoch. Ich sehe die Menschen hier. Ich bereue es! Ich schlucke. Ich schwöre, ich bereue es wirklich! „Der Angeklagte wird wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Dem Angeklagten wird das Führen von Kraftfahrzeugen aller Art im öffentlichen Straßenverkehr für die Dauer von sechs Monaten untersagt. Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens.", höre ich dann noch und ich lasse es auf mich wirken. Es war ein Unfall! Wie oft habe ich mich entschuldigt? Wie oft? Mir ist klar, das bringt ihn auch nicht wieder zurück, aber was habe ich getan? Meine Augenlider verkleben schon langsam, ich sollte mir mal die Tränen wegwischen. Mein Anwalt reicht mir ein Taschentuch. „Herr Reinelt, Sie haben drei Kinder und Sie wohnen mit Ihrer Frau zusammen. Ich gehe davon aus, dass Sie Ihrem Beruf weiterhin nachgehen wollen. Sie haben vor dieser Tat keine Straftaten begangen, weswegen ich es nicht für nötig hielt die geforderte Strafe von einem Jahr Haft zu erfüllen.", erklärt die Richterin mir. Ich trockne mein Gesicht und sehe sie an. In ihren Augen erkenne ich Nachsicht. Doch mein Blick führt weiter durch den Raum. Neben dem Staatsanwalt sitzt sie. Seine Mutter. Es treibt mir die Tränen zurück in die Augen. Es tut mir so unendlich leid. Sie weint auch. Bitterlich. Neben ihr sitzt vermutlich ihr Mann. Ich habe nicht richtig zugehört, als gesagt wurde, wer er war. „Sie werden vorerst auf Ihren Führerschein verzichten müssen. Nach diesem halben Jahr werden Sie ihn nach einer bestandenen Prüfung wieder benutzen dürfen." Ich nicke und tupfe noch einmal meine Wangen. „Habe ich verstanden...", bringe ich nur leise heraus. So leise, dass es kein anderer hört. Ich zerknülle das Taschentuch in meiner Hand. Nie wieder, nie wieder werde ich mich in ein Auto setzen. Ich zerknülle es, reiße es auseinander. Es nur pure Wut auf mich selbst. Aber ich erkenne sie noch woanders. Diese Wut. In den Augen meiner Gegenüber. In den Augen seiner Mutter. Sie tut mir leid. Mir tut es leid. Ich würde es gern ändern. Zu gern würde ich die Geschehene ungeschehen machen. Doch ich bin nur Illusionist. Ich kann nicht wirklich zaubern.

Magical Storys ~ OneshotsammlungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt