Kapitel 1

53 4 1
                                    

Mein Wecker klingelte. Es klang für mich eher nach der Melodie des Todes als nach einem schönen Lied, wie die meisten ihren Handywecker eingestellt haben. Ich krallte mein Handy, war kurz der Versuchung nahe es irgendwohin zu schleudern bis ich mich des besseren besann, und machte es einfach aus. Dann drehte ich mich auf die andere Seite, zog meine Bettdecke über den Kopf und versuchte die allmählich steigenden Geräusche dieses Hauses und ihrer seit einem Monat neuen Hausbewohner zu ignorieren. Leider vergeblich.

Mein Stiefvater, wir, also meine Zwillingsschwester und ich sollen ihn Dad nennen, aber für mich wird er höchstens ein Vater sein und niemals mein Dad, machte Frühstück und sang dabei. Katastrophal. Meine Zwillingsschwester Judy hatte so eben in ihrem Zimmer nebenan das Radio an geschalten und gröllte nun mit Nelly Furtado um die Wette. Ich hörte auch wie meine Mum in Richtung Bad tapste und anschließend unter die Dusche ging. Das Haus erweckte zum Leben.

Alle gingen ihren alltäglichen Tätigkeiten nach, so als ob nie was geschehen wäre. Als ob wir noch in meinem geliebten Dorf wohnen würden. Als ob meine Mum niemals unseren Dad verlassen hatte und ihren Geliebten heiraten musste. Als ob Judy und ich nicht zwangsweise jetzt mit den beiden Turteltauben in einem neuen Haus wohnen mussten und einen auf heile Familie machen mussten.

Doch das Schlimmste an diesem Tag ist der ganze Tag. Die ganzen Menschen um mich herum, die eine gute Laune haben. Einschließlich meiner Schwester, obwohl sie in derselben Misere ist wie ich. Unverständlich und schrecklich für mich.

Ich schwelgte in Erinnerung an meine alte Klasse. Meine Freunde. Meinen Dad. All diese Menschen, die mir etwas bedeuten und ich zurücklassen musste.

"Hope", schreit meine Mutter durch das ganze Haus, "Aufstehen! Du kommst sonst zu spät! Deine Schwester wartet schon auf dich." Ich stöhne.

Wie konnte ich nur vergessen, dass Judy und ich zusammen mit einem Auto zur Schule fahren mussten, damit wir Benzin sparen, trotzdass wir beide ein Auto haben.

Ich stand schweren Herzens aus meinem kuscheligen Bett und ging ins Bad. Dort ließ ich die Dusche an. Ich stellte mich drunter und duschte kalt. Kalt duschen ist für mich seit dem Umzug eine Art Ritual um mich abzuhärten ... vor jedem Schmerz sowohl äußerlich als auch innerlich.

Als mich der kalte Wasserstrahl mich traf, zuckte ich dennoch immer noch zusammen.

Ich brachte das Duschen hinter mich und putzte mir die Zähne, dann ging ich zurück in mein Zimmer und hörte erneut mir meine Mutter mich aus der Küche heraus rief.

Ich stand vor meinem Schrank und entschied mich für ein blaues Longshirt und einer schwarzer Leggins. Total untypisch für mich in letzter Zeit. Denn normalerweise trug ich schwarze Klamotten, nicht um zu zeigen wie emotional ich bin oder das ich zur Gothic-Szene gehörte. Nein, aus reinem Trotz. Vielleicht auch zu zeigen, dass ich hier nicht sein wollte. Doch erstaunlicher Weise hatte ich mich dran gewöhnt und fand die schwarzen Klamotten mittlerweile sehr bequem.

Ich sah mich im Spiegel an. Ausdruckslose grüne Augen sahen mir entgegen. Und ich überlegte kurz, ob ich Mascara ranmachte. Ein Relikt aus alter Zeit. Ich entschied mich dafür, aber den Lipgloss ließ ich weg. Zuviel des Alten würden nur alte Erinnerungen hochkommen lassen. Und die brauchte ich heute gewiss nicht!

Ich schnappte mir meine Tasche, die mit Stiften, einen Block und meinen Fahrpapieren gepackt war.

Ich holte tief Luft, verließ mein Zimmer und ging in die Küche. Dort traf ich auf meine Familie. Das Bild in der Küche, so ohne mich, ähnelt einem Klischee: Meine Mum machte gerade frische Eierkuchen, mein Stiefvater trank Zeitung lesend Kaffee und meine Schwester schnatterte ohne Punkt und Komma.

Ich schnappte mir eine Wasserflasche und einen Apfel. Bevor meine Mum irgendetwas sagen konnte, wandte ich mich an meine Schwester.

"Judy, kommst du. Sonst kannst du laufen." Waren meine einzigen Worten, kein Guten Morgen, kein Hallo.

Unser Stiefvater schien davon nicht viel mitbekommen zu haben, so sehr fesselten ihn die Sportergebnisse.

Ich ging zur Tür und sah nur noch wie sie mit den Augen rollte, aufstand und sich von Mutter verabschiedete.

Das Klappern ihrer High Heels über den Parkettboden im Flur verriet mir, dass sie mir folgte.

Ich schnappte mir meine Schlüssel, zog meine Chucks an und wartete auf sie.

Dann kam meine Schwester, eine Schönheit. Hellblonde und braune Strähnen zierten das eigentlich straßenköterblonde Haar, was wir beide hatten. Meine Haare hingen schlicht langweilig herunter, während sie ihre Haare zu einer niedlichen Flechtfrisur hochgesteckt. Es passte zu ihrem grünen Top und der weißen Jeans. Man könnte meinen Judy wäre ein solches It-Girl wie Paris Hilton. Doch charakteristisch weiß ich, dass sie nicht oberflächlich ist. Sie achtet nur sehr auf ihr Äußeres.

Früher war ich auch so. Vor dem Umzug.

Meine Schwester ging zu meinem geliebten silbernen Ford Fiesta. Er hatte zwar einige Jahre auf den Buckel und sah dementsprechend aus, aber gegen kein anderes Auto hätte ich es niemals eintauschen wollen. Ich liebte es abgöttig und hing zu sehr an meiner Grinsebacke, wie ich mein Auto auch liebevoll nannte. Ich wusste, dass es idiotisch war, seinem Auto einen Namen zu geben, aber es war meine Entscheidung und verstärkte, fand ich, auch nochmals welche Bedeutung die rostige Karre, wie viele mein Auto schrecklicherweise bezeichneten, in meinem Leben hatte.

Meine Schwester ist die Einzige, die das verstand trotz das sie selbst ein Auto hatte, dass etliche Jahre jünger und dadurch moderner war.

Ich stieg ein und seufzte.

Meine Schwester spielte an meinem Autoradio rum, merkte aber das ich keine Lust zum Reden hatte. Sie schwieg und ich war ihr dankbar dafür.

Nach einer Viertelstunde fuhr ich auf den Schulparkplatz auf dem schon hektisches Treiben war. Ich suchte eine Lücke, die am weitesten weg war von der Horde der Menschen, die vor dem Schuleingang standen, aber dennoch in der unmittelbaren Nähe des Schulgebäudes.

Noch bevor ich meinen Motor ausgeschaltet hatte, war meine Schwester schon aus dem Auto in den Schülermaßen verschwinden. Ich rollte mich den Augen.

Man das nenne ich mal offen. Schon krass, dass wir Zwillinge sind, und dennoch so verschieden sind. Ob ich auch keine Hemmschwelle hätte, wenn ich noch so wäre wie ich vor dem Umzug war? Da glichen wie uns mehr, obwohl ich immer die Schüchternere war. Doch stets war Judy an meiner Seite. Das erste Mal muss ich mehr oder weniger alleine in ein neues Klassenzimmer treten.

Ich atmete tief durch, stieg aus meinem Auto und ging zum Schulgebäude. 

HeartlessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt