Norahs Sichtweise

141 16 0
                                    

"Und was habt ihr jetzt vor?“ fragte Allie und brach damit das eingetretene Schweigen.

"Nichts“ sagte Carter und machte Anstalten, aufzustehen.

"Was soll das heißen, 'nichts'?“ Allies Ausdruck verriet Enttäuschung und Verständnislosigkeit, doch Carter erhob sich bereits von der Bank.

"Das heißt, dass es jetzt erstmal am schlausten ist, die Veränderungen hier an der Schule im Auge zu behalten und das allgemeine Geschehen in der Welt zu beobachten. Man muss erst einmal genau wissen, mit wem und womit man es zu tun hat, bevor man unüberlegt handelt." Damit drehte er sich um und verließ den Saal.

Norah blickte ihm schweigend nach. Sie wusste, dass er Recht hatte. Trotzdem kam es ihr falsch vor, einfach nur abzuwarten und selbst nichts zu unternehmen.

"Er hat Recht“ wiederholte Cameron ihre Gedanken und erhob sich ebenfalls. Etwas widerwillig folgten ihm Allie und Norah aus dem Speisesaal und die Treppe zu den Schlafsälen hinauf. An der Gabelung zwischen Mädchen- und Jungenflur blieb Cameron stehen und blickte Norah fragend an. Doch sie schüttelte bloß den Kopf. Sie wollte mit Allie zu Sid in den Gemeinschaftsraum, weil dort ein Fernseher war, auf dem sie Nachrichten schauen konnten. Auch wenn die Jungs vermutlich richtig damit lagen, dass vorschnelles, unüberlegtes Handeln nicht der beste nächste Schritt war, so wollte Norah wenigstens aktiv das Geschehen in der Welt beobachten.

Mit einem verständnisvollen Nicken und einem zarten Kuss auf die Stirn verabschiedete sich Cameron von den Beiden und schlenderte davon. Allie warf Norah einen kurzen Blick zu, dann machten sie sich auf zu dem Mädchen-Gemeinschaftsraum, in dem Sidney ein Sofa vor dem Fernseher in Beschlag genommen hatte und mit einem enttäuschten Ausdruck durch die Sender zappte.

"Nichts“ sagte sie, als Allie und Norah sich links und rechts von ihr niederließen und lehnte sich in die weichen Kissen zurück.

Der Abend brachte keine weiteren Neuigkeiten. Norah hatte zwar ebenfalls das Internet nach weiteren Informationen durchforstet (im Gemeinschaftsraum gab es einen allgemein zugänglichen PC), aber auch dort war sie nicht fündig geworden. Natürlich überraschte sie das nicht sonderlich, da der Kreis der Wächter und die Guardian's Academy und überhaupt alles, was mit Begabungen zu tun hatte, vor den normalen Menschen geheim gehalten wurde. Das klang selbst in ihren Gedanken seltsam. Sie war erst so kurz hier und wusste seit fast ebenso kurzer Zeit erst von ihrer Gabe und schon begann sie, sich gedanklich von ihrem alten Umfeld abzugrenzen. Welche Richtung würde ihr Leben wohl von nun an einschlagen? Welche Auswirkungen würden auch die neuesten Ereignisse auf ihr ohnehin komplett auf den Kopf gestelltes Leben haben? Norah brummte der Schädel und sie war daher fast schon dankbar, als Sidney vorschlug, den Abend mit einer ruhigen Komödie, die im Fernsehen lief, ausklingen zu lassen und den morgigen Tag dazu zu nutzen, in der Bibliothek zu recherchieren, ob etwas Vergleichbares schon einmal in der Geschichte der Wächter vorgefallen war. Auch wenn Norah aus ihrer bisherigen Lektüre der "Geschichte der Wächter" nichts dergleichen entnommen hatte, freundete sie sich mit dieser Idee schnell an und genoss so gut es ging den restlichen Samstagabend zusammen mit ihren beiden Freundinnen vor dem Fernseher.

Der nächste Tag begann für Norah viel zu früh, als sie kurz nach sechs aus einem Albtraum hochschreckte. In ihrem Traum hatte sie eine Schule gesehen, die der Akademie unglaublich ähnlich gesehen hatte. Doch diese Schule hatte eine bedrohliche Aura gehabt und ihre Flure waren leer und düster gewesen. Norah war mit klopfendem Herzen durch sie hindurch geeilt und vor einer schweren Holztür zum Halt gekommen, da sie Stimmen aus dem Raum dahinter vernommen hatte. Sie hatte kurz unentschlossen davor gestanden, dann aber ihr Ohr an das Holz gepresst. Sie erinnerte sich nicht mehr an das Gespräch, welches sie belauscht hatte, aber der Augenblick, in dem die Tür aufgerissen worden war und sie in das harte Gesicht eines seltsam vertraut aussehenden Mannes geblickt hatte, hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Die Wächter - BEGABT (Bd. 1) überarbeitetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt