Norah stand mitten auf der Straße und ihr Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust. Sie konnte jeden einzelnen Schlag deutlich hören. Ansonsten war es still. Totenstill. Erschrocken und wie benebelt ließ sie ihren Blick die Straße entlang gleiten. War das bloß ein konfuser Traum? Alles um sie herum war wie eingefroren. Jedes Geräusch war von der plötzlichen Regungslosigkeit verschluckt worden, alle Menschen um sie herum verharrten starr in ihren Bewegungen, nicht ein Windhauch ging durch die Luft. Vor ihr stand Eve, ihre Augen weit aufgerissen vor Schock und ihre Arme abwehrend vor ihrem Oberkörper ausgestreckt. Nicht einmal einen Meter entfernt das Taxi, das in viel zu hoher Geschwindigkeit auf sie zugerast war. Der Taxifahrer hatte einen entsetzten Ausdruck im Gesicht und von der Spannung in seinem gesamten Körper zu urteilen, war sein Fuß mit aller Kraft auf dem Bremspedal gelandet.
Langsam massierte Norah sich die Schläfen und schloss ihre Augen. Sie musste einfach nur aufwachen. Doch nichts passierte. Als sie ihre Augen wieder öffnete, war sie noch immer neben Eve auf der Straße, noch immer den Taxifahrer direkt vor sich, noch immer dieselbe skurrile Situation. Es war Stillstand. Die Zeit schien beschlossen zu haben, sich eine Pause zu nehmen und auszusetzen.
Sie versuchte, sich zu erinnern, wie es zu dieser Situation gekommen war. In Träumen - das wusste sie - konnte man häufig den Hergang nicht mehr rekonstruieren. Aber sie konnte es. Sie war mit ihrer besten Freundin Eve shoppen gewesen. Sie hatten sich Kleider für den alljährlichen Schulball gekauft, hatten gelacht, geplaudert und sich über den neuesten Klatsch und Tratsch ausgetauscht. Als sie mit ihren Einkaufstaschen aus dem letzten Geschäft marschiert waren, hatte Eve auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihren Schwarm Tom gesehen, hatte angefangen, wie wild zu winken und war unachtsam auf die Straße gerannt. Sie hatte das Taxi nicht bemerkt, welches stark beschleunigt hatte, um die Kreuzung noch bei gelb zu überqueren.
Aber Norah hatte es gesehen, hatte Eve gerufen, doch da war es schon fast zu spät gewesen. Aber dann, ja, dann war plötzlich alles zum Stillstand gekommen. Die Zeit hatte ihre Pause eingelegt und Norah war zu Eve auf die Straße gestürzt. Und dort stand sie nun und fühlte sich seltsam in der toten Regungslosigkeit. Sie hoffte so sehr, dass sie einfach aufwachen würde. Es konnte nur ein Traum sein. Sowas war nicht möglich. Aber selbst wenn dies nur ein äußerst skurriler Traum war, so hatte Norah dennoch das Gefühl, etwas tun zu müssen. Auch im Traum konnte sie Eve nicht in der Gefahr lassen, in der sie sich gerade befand.
Also legte sie ihre Arme um Eve, die sich starr und kalt wie eine Schaufensterpuppe anfühlte, und halb trug halb zog sie mit aller Kraft von der Straße. Ihre Freundin in Sicherheit wissend, drehte sie sich um, um auch Eves Einkaufstasche zu holen, die sie vor Schreck hatte fallen lassen, doch als sie sich der Straße zuwandte, stürzte mit einem Mal aller Lärm des Stadtverkehrs auf sie ein, Autos zischten vor ihren Augen über das Asphalt, Stimmengewirr drang von überall auf sie ein und Menschen eilten die Gehwege entlang. Unvorbereitet wich Norah zurück und stolperte fast über ihre eigene Einkaufstüte, die sie am Rand des Bürgersteigs fallen gelassen hatte und rempelte eine Person an, die sich lautstark beschwerte. Sie wirbelte herum und erkannte Eve, die einen entgeisterten und wütenden Ausdruck im Gesicht hatte.
"Norah" schnappte sie und packte sie unsanft am Oberarm, "was zum Teufel machst du da und wo zur Hölle ist mein Ballkleid?!"
Norah schüttelte ihre Verwirrung ab und starrte ihre Freundin bestürzt an. Und ehe sie sich versah, hatte sie sich auf Eve gestürzt und umarmte ihre Freundin stürmisch. Was auch immer da gerade passiert war, Norah war bisher starr vor Angst gewesen und drückte Eve nun voller Erleichterung an sich.
"Was...?" zischte Eve und schob Norah von sich weg, "bist du jetzt völlig gaga?" fragte sie und blickte hektisch um sich. Sie entdeckte ihre Tasche auf der Straße und stieß einen kleinen Schrei aus. "Was zur Hölle...?" wiederholte sie und blickte von der Tasche zu Norah und wieder zur Tasche, die inzwischen äußert ramponiert mitten auf der Fahrbahn lag.
Als die Ampeln auf rot sprangen, stürmte Eve los, um ihr Ballkleid zu retten. Norah heftete sich an ihre Fersen und linste ab und zu zu ihr herüber. Hatte sie irgendwas von all dem mitbekommen? Doch ihr Gesichtsausdruck verriet nichts. Auf der anderen Straßenseite angekommen wedelte Eve mit der Tasche vor Norahs Gesicht rum und funktelte sie zornig an.
"Kannst du mir das erklären?" fragte sie und stemmte ihre freie Hand in ihre Hüfte. "Wie kommt mein Kleid auf die Straße?"
Norah sah sie mit großen erstaunten Augen an. Gab sie ihr die Schuld an dem, was passiert war? Erinnerte sie sich nicht einmal mehr an Tom auf der anderen Straßenseite, an das Taxi und ihren Beinahe-Umfall?
"Du weißt es nicht mehr?"
"Weiß was nicht mehr?" zischte sie, "Ich weiß, dass wir shoppen waren und ich diesen mega heißen rosa Fummel gefunden habe und dass genau dieser Traum eines Ballkleides soeben auf der Straße um die tausend mal überfahren wurde!"
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Die Wächter - BEGABT (Bd. 1) überarbeitet
Fiksi Remaja"Als sie die Augen öffnete, stand die Welt still..." Du wirst nicht als Wächter geboren. Du wirst als Begabte geboren und dann musst du dich entscheiden: stellst du deine Gabe in den Dienst der Wächter, die sich für das Gute auf der Welt einsetzen o...