Eine große Entscheidung

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Durch ihre geschlossenen Lider hindurch nahm Norah ein grelles Flackern wahr und kurze Zeit später blendete sie ein gleißend helles Licht, weswegen sie ihre Augen noch stärker zusammenkniff. In ihrem Kopf hämmerte es wie wild und ihr Körper und Kopf fühlten sich taub und benommen an. Was war passiert? Wo war sie? Sie lag auf etwas weichem, umhüllt von Wärme und Ruhe, so viel konnte sie mit Gewissheit sagen. Ein Bett vielleicht. Ein mulmig warmes, sicheres Bett. Irgendetwas an dem Wort sicher ließ sie kurz frösteln. Wann war es schon sicher gewesen, seit sie an die Akademie gekommen war? Die Akademie. In den benebelten Weiten ihres Hirns zuckte eine Erinnerung, doch sie konnte sie nicht ergreifen, nicht festhalten. Sie war schneller wieder weg, als Norah auch nur einen Blick auf sie erhaschen konnte. Norah versuchte, ihre Hand zu bewegen. Trotz ihrer Benommenheit gehorchte ihr Körper dem Befehl und Norah strich über die Daunendecke, die ihren tauben Körper wie ein schützender Kokon umgab. Der Stoff fühlte sich gut an, beruhigend und heimisch. Norah hätte sich gerne ganz in ihm verkrochen, sich eingekugelt und die Außenwelt verbannt. Sicherheit, Ruhe, Schutz. Angst, Taubheit, Nebel. Norah wusste, dass etwas an diesen Worten mit der Erinnerung, die sich so vehement vor ihr versteckte, zusammenhing. Angst. Ungeheure Angst vor etwas, was passiert war. Taubheit. Kälte, die ihre Beine und Arme entlang kroch. Kälte, die sich wie eisige Hände um Norahs Herz gelegt hatte. Aber warum? Sicherheit, etwas, was in Norahs benebeltem Hirn wie ein Fremdwort erschien.

"Sie wacht auf" sagte eine erleichterte Stimme, die Norah seltsam bekannt vorkam. Hieß das, dass sie nun die Augen öffnen musste? Musste sie aus ihrem schützenden Kokon kriechen und sich der Welt erneut stellen?

Flüsternde Stimmen, die wirr durcheinander klangen und von Norahs noch immer benommenem Hirn nicht auseinandergehalten werden konnten, kamen nun immer näher. Norah spürte eine Hand auf ihrer Stirn, spürte, wie jemand ihr mit sanften, warmen Fingern die Haare aus dem Gesicht strich. Eine andere Hand streichelte vorsichtig über Norahs Arm. Die Berührung war vertraut und löste ein Feuerwerk der Gefühle in Norah aus. Sie riss ihre Augen auf und die grelle Beleuchtung in dem schlichten weißen Raum stürzte auf sie ein. Sie blinzelte und versuchte, sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Das Hämmern in ihrem Kopf wurde leiser und erleichterte und zugleich besorgte Gesichter rückten in den Fokus. Sie erkannte Sidney und Nick, die am Fußende ihres Bettes standen und zaghaft lächelten. Links neben ihr saß Cameron auf einem Stuhl und seine Hand lag neben ihrem Gesicht auf dem weißen Kissen. Auf der anderen Seite des Bettes saß Carter. Er trug eine weite Jogginghose, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. Sein Blick ruhte auf Norahs Gesicht und seine Hand lag warm und vertraut auf ihrem Arm. Und obwohl er lächelte, verrieten seine blauen Augen große Sorge. Langsam setzte Norah sich auf. Sie war eindeutig in einem Krankenzimmer. Die Wände und der Fußboden, das Bettzeug und die Vorhänge vor den großen Fenstern, alles war weiß und trostlos. Aber ihre Freunde waren hier und schenkten dem Raum Leben und Farbe. Ihre Freunde. Norahs Blick glitt über die ihr so vertrauten Gesichter. Die Erinnerung, warum sie hier war, kehrte noch immer nicht zurück, doch etwas in ihr schrie und toste und versicherte ihr, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Ihr Blick glitt erneut über die Gesichter ihrer Besucher. Sidney, Nick, Cameron, Carter. Und dann traf es Norah wie ein Schlag und das Hämmern in ihrem Kopf stieg wieder zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen an. Allie!

Leise hallten Nicks Worte in Norahs Kopf wider: "Sie ist tot. Es war Peeta. Er gehört zu denen." Und die Erinnerung war wieder da. Feuer, Blut, Schreie, Kämpfe, Carters verletztes Bein, Camerons Schnitte, Katys Schluchzen und Allies Tod. Allies Tod. Peeta. Wut und Verzweiflung kochten in Norah hoch. Ihr Magen drehte sich um, ihr war übel und der Schwindel kehrte zurück. Sie spürte ein Brennen in ihren Augen und musste fast gleichzeitig feststellen, dass sie weinte. Tränen kullerten lautlos über ihre Wange. Das Hämmern in ihrem Kopf wurde nun von einem Rauschen begleitet, das die Worte ihrer Freunde nicht zu Norah durchdringen ließ. Die Worte, die versuchten, sie zu trösten, sie zu beruhigen, ihr zu helfen. Aber Norah wollte keinen Trost. Sie wollte sich nicht beruhigen. Sie wollte Rache. Und dafür brauchte sie Hilfe. Von ihren Freunden, ja, aber auch noch von jemand anderem. Sie musste Angelina finden. Entschlossen warf Norah die Bettdecke beiseite und schwang ihre Beine über die Bettkante. Hände versuchten, sie festzuhalten und zurück auf das Bett zu drücken, aber Norah war stärker. Mit tränenüberströmtem Gesicht machte sie sich los und wirbelte mit funkelnden Augen noch einmal herum, bevor sie aus dem Raum rannte. Sie blickte ihre Freunde an. Sie suchte in ihren Augen nach Verständnis, fand allerdings bloß Ratlosigkeit. Nur ein strahlend blaues Augenpaar erwiderte zuversichtlich ihren Blick, doch das genügte ihr. Sie wandte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Dass sie nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet war, merkte sie nicht einmal.

Die Wächter - BEGABT (Bd. 1) überarbeitetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt