Camerons Sichtweise

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Cameron sah Norah mit Allie nach draußen verschwinden. Er überlegte kurz, ob er ihr folgen und sie auf das, was er in der Bibliothek beobachtet hatte, ansprechen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er beschloss, den Samstag für einige liegen gebliebene Schulaufgaben zu nutzen und außerdem hatte er später noch etwas Wichtiges vor.

Er zog sich also in den Jungentrakt in sein Zimmer zurück und brütete über "Geschichte der Wächter“ bis sein Kopf auf seinen Schreibtisch sank und er in einen unruhigen Schlaf verfiel. Er sah deutlich Norahs Gedanken vor sich. Die Bilder, die Norah vor sich gesehen hatte, breiteten sich nun auch vor Camerons innerem Auge aus. Er sah Carter und Mila in einem dunklen Flur und selbst im Traum war er etwas wütend auf Norah, dass sie ihm nicht die volle Wahrheit über ihr Gespräch mit Carter erzählt hatte. Er hatte es in ihren Gedanken gelesen, kurz bevor sie ihn ausgeschlossen hatte. Gott, sie war so begabt. Sie hatte sich und ihre Gedanken komplett abgeschottet. Cameron war noch immer fasziniert davon.

Kurz vor vier schreckte er schließlich aus dem Schlaf. Er hatte das Mittagessen verschlafen und sein Bauch grummelte gierig. Er stand auf, wusch sich im Jungenwaschraum das Gesicht und wäre auf dem Flur fast mit Carter zusammengestoßen, der gerade ebenfalls völlig verschlafen aus seinem Zimmer kam.

"Sorry“ murmelte er bloß und wandte sich zum Gehen. Doch Carters Gedanken hielten ihn zurück. Er dachte an Norah und an den Kuss. Und er dachte daran, wie Norah ihn weggeschubst hatte, weil sie mit Cameron zusammen sein wollte und dabei spürte er Carters Eifersucht.

"Was ist?“ fragte Carter, der Cams Zögern bemerkt haben musste.

"Nichts“ log Cameron und drehte sich wieder zu Carter um. "Norah hat mir etwas unfreiwillig von eurem Gespräch erzählt“ sagte er und musterte sein Gegenüber. Keine Reaktion. Lässig lehnte sich Carter an seinen Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Und?“ fragte er nur und erwiderte Camerons durchdringenden Blick.

"Ich habe in ihren Gedanken das mit Mila gesehen."

Carter stieß sich vom Türrahmen ab. Sein Gesichtsausdruck war ernst, als er Cameron mit einer Kopfbewegung bedeutete, ihm in sein Zimmer zu folgen.

Er setzte sich auf seinen Schreibtisch und beobachtete Cameron, der sich kurz im Zimmer umblickte und sich dann sichtlich unbehaglich gegen Carters Kleiderschrank lehnte, während er zu sprechen begann.

"Wieso verdächtigst du sie?“ fragte er geradeheraus. Carters Mundwinkel verzogen sich zu einem kühlen Lächeln.

"Warum spionierst du in ihren Gedanken rum? Wie war das mit dieser Regel? Die Gabe nicht auf Mitschüler anwenden?"

"Ich wende sie nicht absichtlich an!“ entgegnete Cameron schroff und fuhr sich durch die blonden Haare. "Manchmal strömen sie einfach auf mich ein...und wenn“ er zögerte kurz, weil es ihm unangenehm war, ausgerechnet mit Carter darüber zu reden, "wenn ich das Gefühl habe, dass mir was verheimlicht wird, kann ich mich einfach nicht beherrschen.“ gab er schließlich zu. Carter hob eine Augenbraue, sagte aber nichts dazu.

"Ja, ich verdächtige Mila“ antwortete er schließlich. Sein Lächeln war verschwunden und einem ernsten Ausdruck gewichen. "Sie behauptet ständig, dass sie am Wochenende nach Hause fährt“ fügte Carter erklärend hinzu, "aber vor zwei Wochen habe ich sie in der Stadt mit Blake gesehen und seitdem behalte ich sie im Auge."

"August Blake?“ hakte Cameron nach und sein Ausdruck verriet pure Überraschung.

"Jipp“ Carter stand von seinem Schreibtisch auf und kramte in einem Stapel alter Zeitungen auf seinem Nachttisch. Als er fündig wurde, warf er Cameron eine Zeitung vom August zu.

"Das ist fast drei Monate her“ meinte Carter nach einem kurzen Blick auf das Erscheinungsdatum, überflog dann aber die Titelstory.

"August Blake ersetzt Außenminister im Weißen Haus nach mysteriösem Tod des Vorgängers?“ Cameron starrte das Blatt Papier in seiner Hand an. "Und mit dem hat MIla sich getroffen?"

"Jipp“ Carter nahm ihm die Zeitung wieder aus der Hand und warf sie auf sein Bett. "Der Außenminister ist ein Wächter. Er war vor Ewigkeiten hier an dieser Schule. Er steht in keinerlei familiärer Verbindung zu Mila. Ergo ist da was im Busch."

Cameron wusste nicht so recht, wie er mit Carters plötzlicher Offenheit umgehen sollte und schwieg.

"Ich habe Norah davon erzählt...also, dass sie aufpassen soll“ sagte Cameron mehr zu sich selbst als zu Carter und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.

"Scheint, als hättest du damit richtig gelegen"

Cameron nickte. "Ich werde sie im Auge behalten."

"Das tue ich auch"

Die beiden Jungen warfen sich einen kurzen Blick zu, dann verließ Cameron das Zimmer ohne ein weiteres Wort.

***

Cameron eilte hinter Norah die Steintreppe hinunter und erspähte am Eingang zum Speisesaal Sidney und Allie. Als Norah von den Beiden untergehakt und weggezogen wurde, machte er sich in die entgegengesetzte Richtung auf, um Carter zu finden. Er konnte diesen Jungen zwar noch immer nicht einschätzen und erst recht nicht leiden, aber sie beide verband der Zweifel an dem System der Wächter und somit war er in diesem Moment der beste Ansprechpartner. Er fand ihn schließlich in einer Ecke des Speisesaals, der sich schon fast komplett mit Schülern gefüllt hatte, und gesellte sich zu ihm.

"Sie werden es vertuschen“ sagte Carter sachlich, als Cameron bei ihm angekommen war.

"Was vertuschen?“ fragte Cam und ärgerte sich, dass Carter so viel besser Bescheid zu wissen schien.

"Du wirst schon sehen."

Kurze Zeit später folgte die Rede von Miss Abignail und Cameron verstand es. Sie ließen es wie einen Angriff von außen aussehen. Sie erwähnten mit keinem Wort, dass ihren eigenen Leuten genauso wenig zu trauen war.

Als die Halle sich wieder leerte, tauschten Cameron und Carter bloß einen vielsagenden Blick aus und steuerten dann auf Norah und Allie zu, die als letzte noch an ihrem Tisch im Speisesaal saßen.

"Es ist also wahr“ flüsterte Norah zu niemandem Bestimmtes.

"Natürlich ist es das“ Carter setzte sich links neben sie.

"Und ich glaube nicht, dass erhöhte Sicherheitsmaßnahmen und härtere Regeln die einzigen Veränderungen hier bleiben werden“ fügte Cameron hinzu und ließ sich auf Norahs anderer Seite nieder.

Die Wächter - BEGABT (Bd. 1) überarbeitetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt