Norahs Sichtweise

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Norah war einfach nur sauer. Was dachte Carter eigentlich, wer er war? Und zu all dem kam auch noch hinzu, dass er sie nun davon abgehalten hatte, Cam nach dem Essen abzufangen und außerdem hatte er dafür gesorgt, dass Sidney und die Anderen sich nun das Maul über sie zerrissen. Wunderbar. Bei nächster Gelegenheit würde sie ihm eine scheuern müssen. Anders lernte er es wohl nicht.

Sie stand auf und ließ ihre Schultern ein wenig kreisen, um wieder lockerer zu werden. Dann verließ sie ohne weiter nachzudenken ihr Zimmer und strebte in Richtung Jungentrakt. Nach kurzer Zeit hatte sie das Zimmer wiedergefunden und betete nun, dass er dort war, während sie sachte anklopfte.

"Ja?“ ertönte seine Stimme von innen und Norahs Herz machte einen Satz. Langsam drückte sie die Türklinke und schob die Tür auf. In ihr kribbelte es und sie atmete erleichtert auf. Er war allein.

Als er sah, dass sie es war, huschte ein enttäuschter Ausdruck über sein Gesicht und Norahs Herz rutschte ihr in die Hose.

"Cameron? Können wir“ sie zögerte. Ihre Stimme war unsicher und brüchig. "Können wir reden?"

Er saß auf dem Bett und betrachtete sie ernst, nickte dann aber und rutschte ein Stück beiseite, damit sie sich zu ihm setzen konnte. Sie schloss die Tür hinter sich und ließ sich mit wackligen Knien neben ihm nieder.

"Was gibt's?“ fragte er und klang dabei schmerzlich sachlich.

"Ich“ schon wieder dieses Stottern. Mensch, Norah, reiß dich zusammen. "Ich habe dich mit Mila gesehen.“ stieß sie hervor, bevor der Mut sie wieder verlassen würde.

"Ja und?“ fragte Cam betont gleichgültig.

Norah holte tief Luft und erzählte ihm von ihrem Traum und davon, wie ihr Traum dann Wirklichkeit geworden war. Sie erzählte ihm auch von dem Lied, das Mila unter der Dusche gesungen hatte. Sie beendete ihre Erzählung mit dem Geständnis, dass sie eifersüchtig gewesen war, als sie die Beiden gesehen hatte. Das kostete sie viel Überwindung, aber er konnte ja ohnehin Gedanken lesen und Norah hatte noch nicht herausgefunden, wie sie ihn bewusst abschotten konnte.

Zu ihrer Erleichterung wurden Camerons Züge etwas freundlicher und er klang weniger distanziert, als er wieder sprach: "Widme dich deinen Freunden und deinen Feinden erst recht." Er zitierte einen Spruch, den Norah schon ab und zu gehört hatte, doch sie verstand nicht so richtig, was das mit Mila und ihm zu tun hatte.

Als Norah nichts dazu sagte, fuhr Cameron erklärend fort: "Ich glaube, dass Mila was verheimlicht. Da ist was im Gange und ich versuche, etwas aus ihr herauszubekommen."

Norah spürte, wie ihr Herz vor Erleichterung hüpfte. Es gab also keinen Grund zur Eifersucht. Aber was hatte Cam gesagt? Sie aushorchen?

"Du glaubst doch nicht, dass sie ausgerechnet jemandem wie dir etwas erzählt“ legte sie ihre Gedanken offen, selbst wenn Camerons Ausdruck ihr eindeutig verriet, dass er sie bereits gelesen hatte.

"Weil ich so durch und durch gut bin?“ er grinste. Ja, genau das hatte Norah über ihn gedacht. "Ich frage sie auch nicht aus. Ich verbringe Zeit mit ihr und konzentriere mich auf ihre Gedanken. Sie kennt zwar meine Gabe, aber was soll sie tun? Mir dauerhaft ausweichen? Das wäre äußerst auffällig, findest du nicht auch? Nein, sie versucht, ganz normal zu tun und dabei ihre Gedanken zu kontrollieren. Aber manchmal“ er lächelte stolz, "entwischt ihr der ein oder andere Gedanke."

Norah nickte. Das machte irgendwie Sinn.

"Und woher wisst ihr, dass Mila...nunja?“ fragte sie.

"Wir besitzen mächtige Gaben, schon vergessen? Versteck mal deine böswilligen Intentionen vor einer Horde Begabter."

"Und trotzdem wird sie weiter ausgebildet?“ Norah verstand das Alles nicht.

"Nunja. Wir haben keine handfesten Beweise. Darum beobachten wir. Und vielleicht können wir sie ja sogar ganz gut gebrauchen. Vielleicht macht sie einen Fehler und enttarnt einige der schwarzen Schafe unter den Wächtern...oder“ er zögerte, unsicher, wie er das Folgende sagen sollte, "oder sogar die ein oder andere Lehrkraft.“ schloss er.

Norah zog die Luft ein. Wow. Das war irgendwie zu viel für sie.

Cameron streckte seine Hand nach ihr aus und streichelte ihr über die Wange.

"Du bist erst so kurz hier. Du musst noch nicht alles verstehen.“ sagte er und ihre Haut kribbelte unter seiner Berührung. Doch genau so schnell, wie sie gekommen war, zog er seine Hand auch wieder zurück und wandte den Blick von Norah ab.

Und dann traf es sie wie ein Schlag. Seine Gedanken! Sie überfluteten sie geradezu. Es war also wahr! Sie hatte tatsächlich eine zweite Gabe. Und sie war gewaltig! Dennoch konnte Norah sich in diesem Moment nicht darüber freuen, denn was Cameron dachte, war ernüchternd und traurig. Er hatte den Kuss gesehen. Er war niedergeschlagen, enttäuscht und skeptisch. Er war aufgewühlt und fragte sich, was zwischen Norah und Carter vorging. Er war verletzt.

Norah schluckte schwer und legte ihm ihre Hand auf den Arm. Sie schloss die Augen und dachte an den Moment in der Bibliothek. Sie dachte an das Gespräch am Esstisch und an Carter in ihrem Zimmer. Sie konzentrierte sich darauf, Cameron all diese Gedanken zu schicken, damit er sah, wie sie Carter von sich weggeschubst hatte, wie sie Allie erzählt hatte, dass sie Cameron und nicht Carter wollte, wie sie wütend gewesen war, als Carter sie seine Freundin genannt hatte und dass sie ihn zur Rede gestellt hatte. All diese Gedanken umwaberten sie und strömten - zumindest hoffte sie das - zu Cam herüber.

Als sie die Augen öffnete, sah Cameron sie bloß an und ehe sie sich versah, war sie in seinen Armen und seine Lippen auf ihren.

***

Cameron und Norah waren küssend in die Kissen gesunken, als es heftig an der Tür klopfte und eine aufgebrachte Stimme eine Nachricht verkündete, die Norah und Cameron augenblicklich in eine weniger romantische Gegenwart zurückholte:

Es hatte einen Anschlag gegeben. Jemand war verraten worden. Es gab Tote. Alle Schüler und Lehrer sollten augenblicklich in dem Speisesaal zusammenkommen.

Norahs Herz raste, während sie neben Cameron die steinernen Stufen hinabstürzte und zurück in den Saal eilte.

Die Wächter - BEGABT (Bd. 1) überarbeitetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt