Der Wecker riss Norah unsanft aus dem Schlaf und für einen kurzen Augenblick war sie völlig orientierungslos. Sie erinnerte sich daran, wie sie und Cameron in seinem Zimmer geredet hatten. Sie erinnerte sich an seine Eifersucht, die sie klar und deutlich gespürt und in seinen Gedanken gelesen hatte. Sie erinnerte sich an den Kuss und Cams unendliche Erleichterung, als sie ihm von ihrem Training mit Carter erzählt hatte. Doch sie erinnerte sich an noch etwas und es jagte ihr einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Sie hatte in Cams Armen gelegen und seine Gedanken und Gefühle hatten sie wie eine dichte, wabernde Wolke umgeben und sie hatte sich unendlich eingeengt gefühlt. Seine Gefühle für sie waren so besitzergreifend und überwältigend stark gewesen, dass es ihr schon fast Angst machte. Irgendwann hatte sie sich von ihm verabschiedet und hatte Sid und Allie im Gemeinschaftsraum Gesellschaft geleistet, aber sie war nur halb anwesend gewesen und hatte ihre Gespräche kaum verfolgt.
Nun lag sie in ihrem Bett, starrte an die Decke und fühlte dieses Unbehagen in sich, ohne es recht zuordnen zu können. Doch es half nichts: sie musste aufstehen, duschen und frühstücken, damit sie rechtzeitig zum Unterricht kam. Heute hatte sie Basiswissen für Begabte (wie sich gezeigt hatte, wurde das Fach überall mit BWB abgekürzt, im Gegensatz zu dem Fach, das sie im nächsten Semester haben würde: GWZ - Grundwissen für Zeitenwandler) und sie war wirklich gespannt, was sie dort erwarten würde, weil Mr Howard ja verschwunden war.
Norah schob sich gähnend aus ihrem Bett und schnappte sich ein Handtuch aus ihrem Schrank. Im Bad herrschte zwar geschäftiges Treiben, aber Norah fand schließlich noch eine freie Duschkabine und somit konnte der Tag starten. Nunja, das musste er zumindest.
Das erste, was Norah auffiel, als sie die Steintreppen hinunter ins Foyer stieg, waren die zwei schwarzgekleideten Männer, die links und rechts das Eingangstor zur Schule säumten. Ihr Ausdruck war ernst und verriet, dass mit ihnen nicht zu spaßen war. Als sie an ihnen vorbei in den Speisesaal huschte, nahm sie weitere Männer und auch Frauen in derselben dunklen Kleidung war, die allesamt in Ecken positioniert waren, aus denen sie den Saal gut überblicken konnten. Sie alle ließen ihre Blicke wachsam und geduldig über die Köpfe hinweg gleiten.
Norah verlangsamte ihre Schritte und steuerte auf ihren Stammtisch zu. Bildete sie sich das bloß ein oder folgten ihr gerade zig Augenpaare von schwarz uniformierten Wächtern?
Als sie an dem Tisch ankam, war sie überrascht, dass alle da waren. Katy, Peeta, Nick, Cameron, Carter, Allie und Sid. Sie alle saßen da und schwiegen. Ihre Blicke huschten verunsichert zwischen den Wächtern hin und her und auch als Norah sich zu ihnen setzte, kam kaum eine Reaktion.
"Das sind sie" flüsterte ihr Allie zu, "Miss Abignails Sicherheitsvorkehrungen."
Norah nickte stumm und griff nach einem Stück Vollkornbrot mit Käse.
"Welche Gaben haben die wohl?" fragte Sid und beugte sich dabei näher zu Norah und Allie herüber.
"Vermutlich von allem etwas" sagte Cameron und rückte nun zu Norah rüber, um ihr einen Arm um die Taille zu legen.
"Irgendwie fühle ich mich mit denen nicht sicherer, sondern einfach bloß observiert" merkte Carter kühl an und Norah schaute zum ersten Mal an diesem Morgen zu ihm herüber, doch er sah sie nicht an. Sein Blick schweifte ziellos durch den Raum und das Essen auf seinem Teller war noch unangerührt. Norah hatte inzwischen herausgefunden, wie sie in die Gedanken und auch ein Stück weit in die Gefühle anderer Menschen eintauchen konnte, doch bei Carter war es nicht ihre Gabe, die ihr sagte, dass er unglücklich war. Sie spürte es viel tiefer, dort, wo ihre eigene Energie verankert war. Ob das etwas mit ihrer Verbindung zu tun hatte?
Mit einem Mal verstummten alle Geräusche und Gespräche um Norah herum und als sie nach dem Grund dafür suchte, erkannte sie die zierliche Schulleiterin auf der Bühne. Sie stand den Schülern zugewendete und wartete darauf, dass ihr die volle Aufmerksamkeit galt.
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Die Wächter - BEGABT (Bd. 1) überarbeitet
Fiksi Remaja"Als sie die Augen öffnete, stand die Welt still..." Du wirst nicht als Wächter geboren. Du wirst als Begabte geboren und dann musst du dich entscheiden: stellst du deine Gabe in den Dienst der Wächter, die sich für das Gute auf der Welt einsetzen o...