Carters Sichtweise

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"Bereit?“ fragte Carter, als Norah in den Raum trat und die Tür leise hinter sich schloss. Sie nickte und schenkte ihm ein leicht gequältes Lächeln. Carter konzentrierte sich auf ihre Verbindung und suchte in ihren Gefühlen nach einem Grund für ihre Bedrückung, konnte aber nichts entdecken: sie hatte auf ihrer Seite des Bandes die Schotten heruntergefahren.

"Was ist los, N?“ fragte Carter und kam langsam auf sie zu.

"Nichts“ Norah wich seinem Blick aus und ließ sich auf einem der Tische nieder.

"Können wir heute nicht so lange machen?“ fragte Norah jetzt und sah Carter zum ersten Mal richtig an. "Ich will so gern noch raus."

Carter nickte, wobei er seinen Blick nicht von ihr los ließ. Norah lächelte sichtlich erfreut und schloss die Augen.

"Los, berühr mich.“ sagte sie und Carter musste schmunzeln, weil eine solche Einladung auch schnell falsch verstanden werden konnte. Er stellte sich vor Norah und ließ seine Hand über ihre Wange gleiten. Ihr Lächeln wurde breiter.

"Mehr“ sagte sie leise. Carter starrte sie an. Sie hatte ihre Augen noch immer geschlossen und wartete darauf, dass er sie anfasste. Heute war ihre letzte Sitzung; das hatten sie beide letzte Woche so beschlossen, weil die Verbindung schon lange keine Schmerzen mehr verursacht hatte. Das hier war eine Art Test, ob Carter sie tatsächlich berühren konnte, ohne einem von ihnen wehzutun. Auch wenn das egoistisch war, so hoffte Carter noch immer, dass es wehtun würde. Er wollte nicht, dass ihre Treffen zu zweit ein Ende nahmen. Er wollte sie nach wie vor wenigstens ab und zu nur für sich. Er wollte sie sehen, mit ihr reden, sie berühren. Er wusste, dass dieses Verlangen durch das Ausbauen ihrer Bindung sehr viel stärker geworden war und ab und zu hatte er sich eingebildet, auch bei ihr einen Hauch von Gefühlen entdeckt zu haben. Er hatte Mister Sparks danach gefragt und der hatte ihm erklärt, dass die seelische Verbindung meist auch zu einer körperlichen führte. Warum schien es bloß so, dass das nur bei ihm der Fall geworden ist?

Norah schlug die Augen auf und sah ihn fragend an. Carter rang sich ein Grinsen ab und sagte: "Sorry, aber das war mir grad zu platt. Berühr mich." Er lachte und knuffte Norah freundschaftlich in die Seite. Sie verdrehte die Augen, grinste aber ebenfalls.

"Zu platt?“ fragte sie und erhob sich von dem Tisch, so dass sie ganz dicht vor ihm stand. "Los, Carter, fass mich an!" Sie sprach als würde sie "RUF MICH AN" sagen, wie eine dieser billigen Frauen in der Werbung, die nach Mitternacht auf irgendwelchen Sendern abgespielt wurde. Carter musste lachen und Norah mit ihm. Als sie sich wieder beruhigten, verknotenen sich ihre Blicke ineinander und Carter musste schwer schlucken, um den Kloß in seinem Hals wegzubekommen.

"Okay“ sagte er schließlich und Norah schloss erneut die Augen. Sie stand so nah vor ihm, dass er die hauchdünne schwarze Farbe auf ihren langen Wimpern sehen konnte, Maskara, die sie am Morgen aufgetragen hatte. Sie seufzte leise, weil Carter noch immer nichts tat.

Für einen kurzen weiteren Moment sah er sie einfach bloß an, dann streckte er seine Hand nach ihr aus und ließ sie über ihre Wange, an ihrem Hals herab zu ihren Schultern gleiten. Sie trug einen roten, grob gestrickten Wollpullover mit einem großen, runden Ausschnitt. Carter ließ seine Hand unter den Stoff zu ihrem Oberarm wandern. Bildete er sich das bloß ein, oder hatten sich Norahs Mundwinkel zu einem genießerischen Lächeln verzogen? Seine Hand wanderte unter dem Pullover zu ihrem Rücken und mit seiner anderen Hand griff er an ihre Hüfte, um sie näher zu sich heran zu ziehen. Sie ließ es mit sich machen und sie standen nun fast schon in einer engen Umarmung voreinander.

Durch Carters Berührungen war ihr Pullover inzwischen von der einen Schulter herunter gerutscht und entblößte nicht nur diese, sondern auch ein Stück ihres Armes und einen Teil ihres BHs. Carter zog scharf die Luft ein und zog sie das letzte Stück zu sich heran. Seine eine Hand lag flach auf ihrer Hüfte und mit der anderen streichelte er sanft ihren Rücken. Sie hatte ihre Verbindung noch immer abgeschottet, darum wusste Carter nicht, ob sie Schmerzen hatte oder was sie fühlte und dachte. Doch es interessierte ihn auch gar nicht mehr. Er senkte seinen Kopf zu ihr herab und blieb mit seinem Gesicht nur einige wenige Zentimeter vor ihrem stehen. Er spürte ihren beschleunigten Herzschlag und hörte ihr ungleichmäßiges Atmen. Ihre Lippen waren minimal geöffnet...da wurde es ihm klar: sie wollte es auch! Und er küsste sie. Und dieses eine Mal wehrte sie sich nicht. Er wusste, dass es falsch war und er wusste, dass sie das wusste. Trotzdem schlang er seine Arme nur noch fester um sie und als sie auch ihre Arme um seinen Nacken legte, konnte er es fühlen. Sie hatte sich ihm wieder geöffnet und eine Welle unterdrückter Gefühle brachen über ihn herein. Angst, Verwirrung, Misstrauen...sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Gefühle für Carter zuließ, obwohl sie mit Cameron zusammen war. Er spürte, dass sie Cameron liebte, sich aber von ihm eingeengt fühlte. Und er spürte noch etwas: ihre Liebe für ihn, ganz anders als die, die sie gegenüber Cameron empfand: kompromisslos, unbändig, energiegeladen.

Als sie sich endlich voneinander lösen konnten, sahen sie einander bloß an. Zwischen ihnen waren keine Worte nötig.

Die Wächter - BEGABT (Bd. 1) überarbeitetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt