Kapitel 1

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Kapitel 1

Kyle


Schwach brechen die letzten, goldenen Strahlen der Sonne zwischen den Ästen der Bäume hindurch und schenken der Welt um mich herum ein wenig Licht. Einige Vögel zwitschern unbeschwert ihre Lieder vor sich hin, während die Schatten immer länger werden. Noch vor kurzem war der Wald erfüllt von den Farben des Herbstes, jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Winter einbrechen wird. Auch wenn die Bäume ohne Blätter trostlos und schwach wirken, geben sie mir ein Gefühl von Frieden. Etwas das man in Zeiten wie diesen so gut wie nirgends findet. 

Mit jedem Schritt in die Tiefen des Waldes lasse ich meine Probleme weiter zurück, keines soll mir hier etwas anhaben. Nicht am einzigen Ort, der vom Krieg noch verschont blieb. Wie lange es noch so sein wird, stellt sich irgendwann heraus. Meinetwegen kann es aber eine Weile warten. Man findet an sonst keinem Ort seine Ruhe, warum sollte man sie uns hier auch noch nehmen? Aber gerade das ist die Ironie am Ganzen. Ein kleiner Fleck Wald, umgeben von einem Reich, das innerlich wie äusserlich an einem Krieg zerbricht und trotzdem herrscht hier Frieden. Etwas Zerbrechliches, das uns jeden Moment genommen werden könnte. 

Lautlos versuche ich den Abstand zwischen mir und Enya zu verringern. An einen Baum gedrängt, zieht sie einen Pfeil hinter ihrem Rücken hervor und richtet ihn auf ein Rebhuhn ein gutes Stück von ihr entfernt. Nach einem kurzen Atemzug lässt sie den Pfeil zielsicher fliegen und tötet damit ihre Beute. Ein stolzes Lächeln legt sich auf ihre Lippen und sie dreht sich zu mir um. Unsere Blicke treffen sich und ich spüre die Wärme in meinem Herzen, als ich in ihre aufgeweckten braunen Augen sehe. Sie löst sich von mir und geht auf ihre Beute zu.

"Guter Schuss", bemerke ich, als Enya den Pfeil aus dem toten Tier zieht.

"Vielen Dank", nimmt sie mein Lob entgegen und kommt mir einen Schritt näher. "Es ist von Vorteil, wenn wenigstens einer von uns beiden etwas trifft."

"Was willst du damit sagen?", frage ich sie vorwurfsvoll, lege meine Hände um ihre Hüften und ziehe sie an mich heran.

Anstatt mir eine Antwort zu geben, zieht sie mich am Kragen näher an sich und legt ihre Lippen auf die meinen. Fast schon reglos stehen wir dicht aneinander und lassen alles andere an uns vorbeiziehen. Nur Enya und ich.

"Wir sollten los", flüstert sie mir zärtlich ins Ohr und fährt mit ihrer Hand über meinen Hals. "Vater macht sich bestimmt Sorgen."

Langsam löse ich mich von ihr und stecke meine Hände in die Jackentaschen.

"Das macht er sich immer, wenn du in meiner Nähe bist."

Darauf erwidert sie nichts, da wir diese Diskussion schon oft genug geführt haben. Es war noch nie meine Stärke, mich anderen anzupassen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, machen wir uns auf den Weg ins Dorf. 

Die Sonne hat uns unterdessen verlassen und die Luft wird bei jedem Atemzug kälter. Auch die Geräusche verstummen nach und nach, so dass nur noch unsere Schritte zu hören sind. Fast bei jedem Aufenthalt hier im Wald, denke ich wieder an zu Hause. Ein kleines Dorf am Rande des Luftreiches, in dem ich aufgewachsen bin und das ich nie wirklich verlassen habe. Nun ist es schon fast ein Jahr her, seit ich das letzte Mal dort war und manchmal frage ich mich, wie die Menschen dort den Krieg miterleben. Als ich noch dort war, bekamen wir kaum etwas mit, die Grenze wurde dafür zu gut von den Dämonen beschützt. Hier, auf der anderen Seite der Grenze, kann man das nicht behaupten. Ständig herrscht die Angst, von den Dämonen angegriffen zu werden, auch wenn immer gesagt wird, dass wir keinen Grund zur Furcht haben. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, weshalb ich mir wünsche, wieder zu Hause zu sein. Es war einfacher, ohne diese Angst zu leben. Die Angst vor denen, die ich einst als Freunde bezeichnet habe. Nicht, dass ich die Dämonen nun anders sehe, nur die Gefahr, zu dieser Ansicht zu stehen, ist in einem Gebiet, das sich an sein Element klammert, zu gross. 

Gerade als wir den Waldrand erreichen, werden meine Schritte ein wenig langsamer. Enya bemerkt mein Zögern und greift zärtlich nach meiner Hand. Ich wehre mich nicht dagegen und passe meine Geschwindigkeit wieder der ihren an. 

"Keiner hat dich dazu gezwungen, zwischen den Elementen zu stehen", erinnert sie mich angespannt. "Ich meine, du könntest noch immer zum Feuer wechseln..."

"Warum nicht? Zu dem Element stehen, zu welchem ich noch nie gehört habe", gebe ich gereizt zurück. "Das ist es doch, was sie wollen. Durch den Druck der Gesellschaft die anderen Meinungen unterdrücken."

Einer der Neutralen zu sein, ist nicht gerade einfach, aber an diese Position bin ich ja gewohnt. Man steht zwischen zwei Elementen und versucht weder für noch gegen eines zu sprechen. Da sich aber viele Stimmen dem Feuer zuwenden, stand ich schon das ein oder andere Mal für die Bewohner des Luftreiches ein. Die Reaktionen auf solche Worte sind aber meist sehr negativ und man wird dafür sofort dem Feind zugeteilt. Das einzige, was mich hier noch am Leben hält, ist die Flamme auf meiner Brust. Ein Zeichen, dass meine Zugehörigkeit zum Feuerreich zeigen soll. Soweit ich weiss, trägt jeder im Dorf eine solche Flamme, denn ohne dieses Zeichen gehört man sofort zu den Dämonen und ist sein Leben schneller los, als einem lieb ist.

Als wir an den kleinen Holzhäusern vorbeigehen, winkt mir jemand zu. Mit erfreuten Blick ändere ich die Richtung und gehe auf den älteren Mann zu. Nur langsam folgt mir Enya, ihre Augen betrachten aufmerksam unser Umfeld. Auch wenn ich nur vorhabe, einen Freund zu sprechen, lässt mich das Gefühl nicht los, ein Verbrechen zu begehen. Kopfschüttelnd verwerfe ich diesen Gedanken wieder. Mit der Zeit lasse ich mir zu viel von anderen sagen.

"Guten Tag Kyle", begrüsst mich Tobias mit einem unbeschwerten Ton in seiner Stimme. "Schön dich wieder einmal zu sehen."

"Du warst derjenige, der sich die letzten Tage zurückgezogen hat", werfe ich ihm mit einem Lächeln vor. 

Tobias steht für die Neutralen hier im Dorf und versucht auch, uns vor den Feuerüberzeugten zu beschützen. Deswegen gerät er immer wieder in Streitereien mit den anderen, aus denen er sich meist einfach zurückzieht. Seine Kräfte reichen nicht mehr, um Rechte mit Gewalt durchzusetzen. 

"Hat Hermann eigentlich noch etwas gesagt, seit ihr das letzte Mal aneinandergeraten seid?", erkundige ich mich.

"Dieser Dorfwächter schenkt mir seither nur finstere Blicke", erklärt mir Tobias ein wenig verzweifelt. "Seit die Familie vom Dorfrand weggezogen ist, glaubt er einen Beweis für unsere Zusammenarbeit mit den Dämonen gefunden zu haben."

Wenn es etwas gibt, was Hermann nicht leiden kann, dann sind es Dämonen und Menschen, die sich nicht für eine Seite entscheiden können. Als Dorfwächter hat er die Aufgabe, hier für Ordnung zu sorgen und im Falle eines Angriffes das Dorf zu beschützen. Einer der grössten Dornen in seinem Auge bin ich. Bei unserer ersten Begegnung habe ich mich gegen ihn und gegen das Feuer gestellt und somit seinen Hass auf mich gelenkt. Seither hat sich unser Verhältnis nur verschlechtert, da ich durch meine Zugehörigkeit zu den Neutralen ab und zu gegen ihn stehe. Warum er gerade in einem Jäger wie mir eine Bedrohung sieht, will mir nicht in den Kopf. Ich rede mit den Menschen, mehr tue ich nicht.

Als Tobias faltiges Gesicht plötzlich eine ernste Miene annimmt, sehe ich ihn fragend an.

"Wir könnten bald in grössere Schwierigkeiten geraten», erklärt er mir besorgt. "Man hat Dämonen in der Nähe gesehen."

"Das ist nicht das erste Mal, dass jemand so etwas behauptet", widerspricht Enya überzeugt. "Ich glaube nicht, dass da etwas ist."

Beide wenden ihre Blicke mir zu und verlangen nach meiner Meinung. Eine Antwort gebe ich nicht. Es gab die ein oder andere falsche Warnung, aber mein Gefühl sagt mir schon länger, dass wir mit den Dämonen zusammentreffen werden. Während dem Sommer und dem Herbst haben die Krieger des Luftreiches die Grenze für sich beansprucht und sind ein Stück ins Feuerreich vorgedrungen. In meinen Augen gibt es keinen Grund für die Dämonen, sich für dieses kleine Dorf zu interessieren. Wenn es aber zu einem Angriff kommt, stehen unsere Chancen, sie zu besiegen, sehr schlecht. Deshalb kann ich nur hoffen, dass es sich um eine falsche Warnung handelt.

Die Elemente des Lebens - Flammen der RacheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt