06.

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• SYML - Body •

Tage vergehen, werden zu Wochen und Wochen zu Monaten.

Atlas hat mich die gesamte Zeit über ignoriert. So, wie er es immer tut, und so, wie ich es bis jetzt eigentlich auch immer getan habe, aber nach seinem kurzen Besuch vor ein paar Wochen kann ich nicht aufhören, an ihn zu denken und ihn anzustarren. Jedes Mal, wenn er in der Mensa an unserem Tisch vorbeikommt, suche ich den Blickkontakt zu ihm. Ich schreie ihn innerlich an. Sieh mich an! Aber er geht einfach an uns vorbei, den Blick auf den Boden gesenkt, als wollte er nicht gesehen werden.

Auch heute sitze ich wieder mit Yashar und den anderen am Tisch. Und wie an jedem anderen Tag in den vergangenen Wochen scanne ich mit meinen Augen die Pausenhalle ab, auf der Suche nach einem ganz bestimmten Menschen.

Es ist, als würde ich etwas suchen, das nicht gefunden werden will.

Irgendwann entdecke ich Atlas. Er sitzt auf dem Boden, zusammen mit ein paar anderen Leuten. Ich bin mir nicht sicher, ob sie seine Freunde sind, aber ich sehe ihn meistens mit ihnen zusammen. Leute, die zwar auf meine Schule gehen, mit denen ich aber nicht wirklich etwas zutun habe. Von manchen kenne ich die Namen, mit manchen teile ich vielleicht sogar die selben Kurse, aber das war auch alles.

Ich beobachte ein Mädchen mit kurzen, schwarzen Haaren, das direkt neben Atlas auf dem Boden sitzt. Wahrscheinlich sollte ich da nicht so auffällig hinstarren, nein, ich weiß, dass ich da nicht hinstarren sollte, aber ich komme nicht drumherum zu bemerken, dass sie meiner Meinung nach viel zu oft und viel zu offensichtlich ihre Hand auf seine Schulter legt, wenn sie lacht.

Am liebsten würde ich zu ihnen rübermarschieren und ihre Hand von ihm losreißen, aber das geht natürlich nicht. Atlas gehört mir nicht. Ich habe kein Anrecht auf ihn. Er kann tun und lassen was er will und mit wem er will. Aber ich kann einfach nicht aufzuhören, zu ihm herüberzuschauen.

Es ist wie in einem dieser ultra-kitschigen Liebesfilme, in denen alles um einen herum grau wird und der Fokus nur noch auf dieser einen Person liegt. Der einzige Mensch, den man sieht, den man sehen will.

Das anhängliche Mädchen neben ist weg. Yashar und alle anderen verblassen. Die Mensa ist leer. Da ist nur noch Atlas, der sich mit der Hand durch sein Haar fährt, das immer so aussieht, als wäre er gerade eben erst aus dem Bett aufgestanden. Er sieht zur Seite und sagt etwas zu jemandem, dann lächelt er und es ist, als würde die Sonne an einem verregneten Tag endlich wieder aufgehen.

Ich erwische mich dabei, wie sich meine Mundwinkel heben.

Plötzlich dreht Atlas den Kopf zu mir und obwohl mir klar ist, dass ich den Blick abwenden sollte, schaffe ich es nicht. Stattdessen starre ich ihn einfach weiter an, und er starrt zurück. Seine Augen sind so hell, dass sie selbst aus dieser Entfernung wie Diamanten strahlen.

Wenn die Situation anders wäre, wenn das Ganze nicht so verdammt komisch wäre, würde ich vielleicht darüber lachen wie wir beide uns minutenlang durch die Pausenhalle anstarren, aber das Lachen bleibt mir im Hals stecken.

Ich will den Blick abwenden, will so tun, als wäre nichts passiert, aber jedes Mal, wenn ich meinem Kopf befehle, sich umzudrehen oder meinen Augen, woanders hinzusehen, tut sich einfach nichts. Es ist, als würde mein Körper nicht mehr auf mich hören und machen was er will und scheinbar will er gerade jetzt Atlas anstarren und mich blamieren.

Ist es nicht seltsam, was ein einzelner Mensch in uns bewegen kann? Dass er dich alle Sorgen und Ängste vergessen lässt, sich zu dem Mittelpunkt deines Lebens ernennt und du ihn einfach nicht vergessen kannst, was auch immer du tust? Es gibt Menschen, die tauchen einfach in deinem Leben auf und nisten sich dort ein, bis sie irgendwann nicht mehr nur ein Teil davon sind, sondern alles. Sie sind der Grund wieso du weinst, wieso du lachst und wieso du lebst.

Atlas war mal dieser Mensch für mich.

Und ich war seiner.

Ich wache so plötzlich aus meinen Gedanken auf, dass ich mich beinahe an dem Saft verschlucke, den ich gerade trinke, denn, als wäre die Situation nicht schon seltsam genug, streckt Atlas in diesem Moment seine Zunge raus. Mein Blick fällt auf etwas Silbernes, das kurz aufblitzt, doch dann ist seine Zunge wieder verschwunden und ich starre einfach nur blöd vor mich hin. Es dauert einige Sekunden, bis ich begreife, was eben passiert ist. Ich blinzle ungläubig. Mein Kopf fühlt sich mit einem Mal so schrecklich leer an.

Mein Blick kehrt wieder zu Atlas' Augen zurück. Er sieht mich immer noch an, etwas Provozierendes blitzt in dem kalten Blau seiner Augen auf.

Ich muss ziemlich dumm aus der Wäsche gucken, denn im nächsten Augenblick zuckt es um seine Mundwinkel. Alles passiert so schnell, dass ich kaum realisiere, was da geschieht. Es ist, als würde ich alles durch eine Luftblase beobachten. Atlas, der versucht, nicht zu lachen, aber zwei Sekunden später an seinem Versuch scheitert. Und dann sehe ich etwas, von dem ich nicht wusste, dass ich es so sehr vermisst habe. Atlas lacht. Ich blinzle, reibe mir über die Augen und sehe wieder zu ihm. Oh mein Gott. Er lacht tatsächlich.

Mein Herz zieht sich zusammen. Wie kann man etwas so Einfaches so sehr vermissen, dass sich alleine beim Anblick dessen der Brustkorb schmerzlich zusammenzieht?

Gerade als ich zurücklächeln will, wedelt jemand mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. Ich zucke zusammen, als hätte man mich aus einem wunderschönen Traum gezogen, an den ich mich zu klammern versucht habe.

Und dann, einfach so, ist dieser besondere Moment wieder vorbei. Die verblassten Menschen tauchen wieder auf, die Hintergrundgeräusche kehren zurück und Atlas verschwindet in der Masse, wird wieder zu dem unsichtbaren Jungen.

Verwirrt schaue ich auf und sehe in zwei bernsteinfarbene Augen. Yashar mustert mich. »Alles okay?«

Ich brauche einige Sekunden, bevor ich antworten kann, doch dann nicke ich langsam. Nein, denke ich. Nichts ist in Ordnung. Überhaupt nichts.

Er runzelt die Stirn und wirft einen Blick über die Schulter zu Atlas, bevor er wieder mich ansieht. »Seit wann bist du denn wieder mit Nowak befreundet?« In seinem Blick liegt eine stumme Klage, die er nicht laut ausspricht, nicht mit den anderen am Tisch. Du hast gesagt mehr war da nicht zwischen euch. Nur dieser Streit, nur eine Entschuldigung.

»Bin ich nicht.«

Yashar sieht nicht so aus, als würde er mir glauben, dabei sage ich die Wahrheit. Atlas und ich sind schon lange keine Freunde mehr. Wir haben eine Auseinandersetzung nach dem Sportunterricht gehabt, Atlas ist wütend geworden und hat sich am Nachmittag nur für sein Verhalten entschuldigt. Mehr war da nicht. Mehr war da nicht.

Als ich Yashars durchbohrendem Blick nicht mehr standhalten kann, sehe ich nervös auf sein Essen. »Isst du das noch?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappe ich mir eine Hand voll Erdbeeren von seinem Teller und stopfe mir eine in den Mund. Wenn ich esse, muss ich ihn nicht ansehen und wenn ich kaue, muss ich nicht reden. Die Erdbeeren retten mir gerade mein Leben.

Ich weiche seinem Blick aus, kaue leise vor mich hin und starre eine leere Stelle im Raum an. Ich sehe überall hin, nur nicht zu Yashar und auch nicht mehr zu Atlas. Aber trotzdem ist Atlas alles was ich gerade sehe. Ich sehe ihn wieder vor mir, wie er auf dem Boden sitzt und mir einfach die Zunge herausstreckt und plötzlich kann ich nicht anders als breit vor mich hinzugrinsen. Atlas hat mir die Zunge rausgesteckt! Ich glaube, ich bin noch nie so glücklich über etwas so Banales gewesen. Ich stopfe mir eine weitere Erdbeere in den Mund, um mein verräterisches Grinsen zu verstecken.

Behind Blue Eyes [PAUSIERT]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt