07.

3.8K 474 382
                                    

• Scott Helman - Cry Cry Cry •

Zwei Wochen später beschließe ich, dass es mir reicht. Ich kann nicht mehr so tun, als würde ich Atlas nicht kennen, ich kann nicht im Gang an ihm vorbeigehen und im selben Klassenraum mit ihm sitzen und so tun, als existiere er nicht, ich kann nicht dabei zusehen, wie er jeden Tag im Unterricht schläft, wenn er überhaupt mal da ist, und mir keine Sorgen um ihn machen. Ich habe es versucht, das habe ich wirklich, aber sobald ich alleine bin, in meinem Zimmer auf dem Bett liege und mir alte Fotos angucke, in meinem Tagebuch herumblättere oder mir die alten Alben anhöre, die Atlas und ich damals geliebt haben, kann ich nicht anders, als an ihn zu denken.

Als wir klein waren, haben wir oft zusammen Musik gehört. Laute, aggressive Musik mit schönen, einzigartigen Stimmen. Meinen Eltern hat das nicht gefallen, aber sie haben uns trotzdem hören lassen, was wir wollten. Es war schließlich nur Musik und wir beide haben sie geliebt, obwohl wir kein Wort von dem verstanden haben, was da gesungen wurde. Wir kannten vielleicht ein, zwei Worte, die wir in der Schule gelernt haben, aber unser Englisch war damals noch nicht gut genug, um irgendetwas wirklich zu verstehen.

Die meiste Zeit haben wir so getan, als wären wir eine Band. Während ich auf meinem imaginären Schlagzeug rumgehauen habe (ich hatte zwar keine coolen Schlagzeugstöcke, dafür aber zwei genauso coole Filzstifte), ist Atlas wie verrückt herumgehüpft und hat wie ein richtiger Rockstar auf seiner Luftgitarre gespielt. Wir haben mitgesungen und dabei nicht nur keinen Ton getroffen, sondern auch den Text vollkommen falsch runtergerattert. Aber das war uns gar nicht so wichtig, wir haben uns trotzdem wie eine richtige Band gefühlt.

Jedes Mal, wenn ich mich daran, oder an irgendeine andere Geschichte mit Atlas, zurückerinnere, würde ich am liebsten weinen. Die letzten zwei Jahre über habe ich es geschafft, die Erinnerungen und Gefühle größtenteils zu unterdrücken, aber ich kann das nicht mehr. Ich weiß nicht was diese Mauer, die ich so lange aufgebaut habe, zum Einsturz gebracht hat, aber sie besteht nur noch aus Trümmern. Es ist, als würde ich ohne Atlas durchdrehen und plötzlich frage ich mich, wie ich es jemals ohne ihn ausgehalten habe. Meine Sehnsucht nach ihm ist unerträglich.

Ich möchte nicht in einigen Jahren zurückblicken und bereuen müssen, dass ich das Beste, was mir das Leben geschenkt hat, einfach so weggeworfen habe, dass ich nicht darum gekämpft habe. Unsere Freundschaft war etwas ganz Besonderes.

Er ist immer für mich da gewesen und das eine Mal, als er mich gebraucht hat, habe ich ihn einfach im Stich gelassen. Mein Brustkorb zieht sich schmerzlich zusammen, als die Erinnerung mich einholt.

»Ich rufe dich später an, okay?« Yashars Stimme reißt mich so ruckartig aus meinen Gedanken, dass ich einen Moment brauche, bis ich wieder weiß, wo ich überhaupt bin. Meine Augen suchen die Umgebung ab. Schule. Natürlich, ich bin noch in der Schule.

Aus dem Augenwinkel bemerke ich Yashars fragenden Blick und mir fällt ein, dass er mir eine Frage gestellt hat. Ich sehe ihn wieder an, nicke schnell und schaffe es sogar, ein Lächeln zustande zu bringen. Noch bevor er sich zu mir beugen und mich küssen kann, winde ich mich aus seinem Griff und trete zurück. »Ich muss los. Meine Mutter wartet bestimmt schon auf mich. Bis später!«

Ohne noch einmal zurück zu blicken oder einen zweiten Gedanken an Yashar zu verschwenden, bahne ich mir einen Weg durch die Menge. Ich quetsche mich zwischen ein paar Jungs aus der Zwölften durch, schubse Schüler aus der Unterstufe aus dem Weg und laufe beinahe einen Lehrer um. Normalerweise hätte ich mich umgedreht und entschuldigt, aber nicht heute. Heute laufe ich einfach weiter.

Am Schultor angekommen, halte ich mich erschöpft an der Tür fest und atme tief ein und aus, während mein Blick prüfend durch die Menschenmenge fährt. Ich werfe einen schnellen Blick auf die Uhr und staune nicht schlecht. Für jemanden, der so unsportlich ist, habe ich mich ziemlich tapfer geschlagen. Eigentlich müsste ich pünktlich sein. Meinem Wissen nach, sollte Atlas jetzt Schluss haben und hier irgendwo sein.

Behind Blue Eyes [PAUSIERT]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt