03.

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• Flora Cash - You're Somebody Else •

Ich zeichne gedankenverloren mit meinem Finger Kreise auf Yashars Bauch nach. Keiner von uns sagt etwas. An jedem anderen Tag würde mich diese Stille nicht stören, aber dieses Mal ist sie erdrückend. Ich wünschte, Yashar würde etwas sagen, um mich von meinen Gedanken an Atlas abzulenken.

Immer wieder gehe ich unsere seltsamen Aufeinandertreffen von heute Morgen durch. Klar, er ist noch sauer auf mich, aber dass er gleich so heftig reagieren muss? Das passt nicht zu ihm. Egal wie sehr er sich auch verändert haben mag, ich kann mir nicht vorstellen, dass Atlas so aggressiv reagiert. Nicht der Atlas, den ich kenne. Der sensible und ängstliche Junge, der bei jeder Kleinigkeit angefangen hat zu heulen und doch mutig sein konnte, wenn ich in Schwierigkeiten gesteckt und seine Hilfe benötigt habe. Atlas war immer für mich da, auch, wenn er dafür mal über seinen Schatten springen musste. Das heute... das war nicht derselbe Junge.

Yashars Hand fährt langsam unter mein T-Shirt. Die Berührung lenkt mich ab und für einen kurzen Augenblick vergesse ich den Jungen mit den grauen Haaren und dem Augenbrauenpiercing.

Ich hebe den Kopf, bis ich Yashar in die Augen sehen kann. Er schiebt seinen Arm unter den Kopf und lächelt mich an, während seine Finger über meine nackte Haut fahren. »Na?«

Ich lächle zurück. »Na?«

Er mustert mich lange, dann sagt er: »Was ist los, Nora?«

»Nichts Besonderes. Das Übliche. Mila zieht über alles und jeden her und hält sich für die Königin der Schule. Und ich würde ihr am liebsten ins Gesicht schlagen. Oder wenigstens spucken.«

Yashar streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Eigentlich hält sie sich für die Königin der Welt.«

Ich lache. »Vermutlich.«

»Was ist los, Nora? Du siehst aus, als hättest du Schmerzen.« Er nimmt eine meiner Strähne in seine Hand und rollt sie um seinen Finger, dabei lässt er mich keine einzige Sekunde aus den Augen. »Bist du eifersüchtig auf Mila?«

Ich schnaube verächtlich. Eifersüchtig auf Mila? Ich? Nie im Leben. Jedenfalls nicht so, wie Yashar vermutlich denkt. Ich lege den Kopf schief. »Manchmal frage ich mich nur, wieso du überhaupt noch mit ihr befreundet bist.«

»Machst du dir Sorgen?«

Ich denke kurz nach. Ich würde gerne sagen, dass ich mir keine Sorgen mache, aber das wäre eine Lüge. Ab und zu sehe ich die Blicke, die Mila Yashar zuwirft. Ich weiß, dass sie auf ihn steht und so gerne ich es mir auch einreden würde, ich weiß nicht, was in Yashar vorgeht. Eigentlich will ich nicht so eine Freundin sein - jemand, der immer misstrauisch ist -, aber manchmal erwische ich mich dabei, dass mir Zweifel an unserer Beziehung kommen. Manchmal kommt sie mir zu perfekt vor. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur paranoid.

Schließlich sage ich: »Ich weiß nicht. Sollte ich?«

Yashar lächelt. Er zieht mein Gesicht zu sich heran und küsst mich. »Mila könnte die Königin des Universums sein, aber du - du, Nora Meyer, bist meine Königin.«

Es sollte nicht so einfach sein, mich um den Finger zu wickeln, schon gar nicht mit so etwas Kitschigem, aber bei seinen Worten werde ich wieder weich. Seine Hand, die über meinen Körper fährt und seinen Lippen, die über mein Gesicht fahren, geben mir den letzten Rest.

Und irgendwann ist Atlas aus meinen Gedanken verschwunden. Dafür ist da nur noch Yashar, Yashar, Yashar.

Als Yashar am späten Nachmittag schließlich geht, weil ihm eingefallen ist, dass er noch mit jemandem verabredet ist, liege ich lange einfach nur so in meinem Bett und starre die Decke an, während ich Atlas wieder vor mir sehe, und dann, nach zehn Minuten, raufe ich mir wütend die Haare und lasse einen leisen Frustschrei raus. Es kann doch nicht sein, dass ich, sobald Yashar verschwunden ist, wieder anfange an Atlas zu denken! Wieso kann ich nicht aufhören an ihn zu denken? Wieso, wieso, wie-

»Nora, Essen ist fertig!«

Ich springe so schnell von meinem Bett auf, dass mir kurz schwindelig wird, dann renne ich nach unten. Meine Mutter ist überrascht, als ich in die Küche komme. Für gewöhnlich muss sie immer mindestens fünf mal nach mir rufen und manchmal sogar nach oben auf mein Zimmer kommen, bevor ich mich zum Essen blicken lasse.

»Da hat aber jemand Hunger.« Sie drückt mir grinsend Teller in die Hand. »Deck schon einmal den Tisch. Dein Vater sollte jeden Augenblick kommen.«

Und fast als hätte Dad nur darauf gewartet, dass sie das sagt, klingelt es plötzlich. Ich stelle die Teller auf dem Tisch ab und renne zur Haustür.

Aber als ich die Tür öffne, steht nicht mein Vater vor mir.

Ich atme hörbar die Luft ein. »Atlas.«

Er hebt den Blick, die Hände in den Hosentaschen, und sieht ein wenig nervös aus. »Hey«, sagt er und presst dann die Lippen aufeinander.

Mein Blick fährt ungläubig über sein Gesicht. Es ist, als hätte es das Aufeinandertreffen von heute Morgen nicht gegeben, als würde ich ihm nach Jahren zum ersten Mal wieder gegenüberstehen. Wie ein verhungertes Tier nehme ich alles in mich auf. Sehe ihm in die kalten Augen, die nicht mehr so kalt wirken wie noch vor einigen Stunden, über das Haar, das ihm wirr vom Kopf absteht, zu dem Piercing an seiner Augenbraue und schließlich wieder zu seinen Augen.

»Hey«, sage ich und klinge seltsamerweise atemlos dabei. »Willst du, ähm, willst du vielleicht reinkommen?«

Er schüttelt den Kopf, dann sagt er: »Ich bin nur vorbeigekommen um mich zu entschuldigen. Wegen vorhin. Du hast nur versucht, mir zu helfen und ich war... nicht gerade freundlich zu dir. Es... es ist...« Er atmet tief ein und aus. »Egal. Jedenfalls: danke, Nor.« Die Andeutung eines Lächelns zeigt sich in seinem Gesicht und auch wenn dieses Lächeln nicht seine Augen erreicht, zieht sich mein Magen in diesem Moment zusammen.

Er hat mich Nor genannt. Und es scheint ihm nicht einmal aufgefallen zu sein.

Am liebsten würde ich Atlas um den Hals fallen, aber ich weiß, dass ihm das nicht gefallen würde, also bleibe ich stehen und sehe ihn an. Ich weiß nicht, was ich noch sagen oder tun soll und obwohl ich vermutlich überfordert mit der Situation bin, bin ich überglücklich. Es ist unglaublich, was alleine sein Anblick in mir auslöst. Es ist so verdammt lange her, dass wir miteinander gesprochen haben, dass ich fast vergessen habe, wie es sich anfühlt.

»Wie geht es dir?«, frage ich, nur um irgendetwas zu sagen.

»Gut. Besser«, murmelt er, dann wendet er den Blick von mir ab. »Ich muss jetzt gehen. Also«, er dreht sich langsam um, »danke nochmal!« Ohne sich noch einmal umzudrehen, hebt er die Hand zum Abschied.

»Atlas?«, rufe ich ihm hinterher, als er bereits an unserem Gartentor angekommen ist. Er bleibt stehen und dreht den Kopf zur Seite, so, dass ich sein Profil betrachten kann. »Ich vermisse dich«, sage ich leise, aber laut genug, um noch von ihm gehört zu werden.

Sein graues Haar leuchtet in der Sonne, so dass es wie Silber aussieht. Am liebsten würde ich mit der Hand durch sein Haar fahren, so wie damals, einfach nur um zu testen, ob es so weich ist, wie ich es in Erinnerung habe. Aber heute ist heute und nicht damals, und wir sind nur noch zwei Fremde, die sich mal gekannt haben und deshalb lasse ich meine Hand sinken.

Ein trauriges Lächeln schleicht sich in Atlas' Gesicht. Er schließt für eine Sekunde die Augen und als er sie wieder öffnet, flüstert er: »Ich weiß.«

Ich weiß.

Und dann geht er.

Als er an der nächsten Ecke verschwindet, steigen mir die Tränen in die Augen. Ich versuche sie wegzuwischen, aber es kommen immer wieder neue. Für einen Augenblick habe ich das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Ich schließe die Tür und lasse mich weinend dagegen fallen. »Ich vermisse dich, Atlas. Ich vermisse dich so sehr.«


Behind Blue Eyes [PAUSIERT]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt