Kapitel 2

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  Am nächsten Morgen waren Noas Füße mit fiesen Blasen überzogen. Sie taten höllisch weh und der Gedanke, den ganzen Tag auf ihnen weiterlaufen zu müssen, machte ihre Laune nicht besser. Sie zwängte sich in ihre Schuhe, die sie am Tag zuvor noch missbilligt hatte. Dadurch wurden die Schmerzen nicht viel besser, aber immerhin konnte sie halbwegs vernünftig auftreten, ohne bei jedem kleinen Steinchen auf ihrem Weg zusammenzuzucken. Sie ärgerte sich jetzt, dass sie nicht auf ihren Vater gehört hatte, der wie alle Anderen keine Blasen an den Füßen zu haben schien.
Sie liefen wieder den ganzen Tag mit wenigen Pausen. Das Gelände wurde steiler und sie gingen nun bergauf. Die Baumreihen wurden lichter und schienen im felsigen Boden immer weniger Halt zu finden. Dafür wuchsen nun mehr Sträucher und Büsche am Wegesrand und Noa fand dies angenehmer, als die ganze Zeit durch den dichten Wald zu gehen. Hier konnte man wenigstens die Sonne sehen und den Ausblick auf die fernen Hügel genießen.
Der Mittag war schon vorbei, als sie in der Ferne mehrere Rauchfahnen erspähten, die zwischen zwei Hügeln hervorquollen und die Siedlung Monua ankündigten.
Die ganze Gruppe schien ein wenig angespannter zu werden. Sie versuchten nicht sich zu verstecken oder sich heranzuschleichen und warteten darauf, dass sie jede Sekunde auf Bewohner treffen würden. Mika, der schon ganz oft in Monua war, erklärte ihnen, dass sie von den Leuten aus Monua nichts zu befürchten hatten, denn es war ein befreundeter Stamm. Trotzdem war es wichtig einen guten und keinen allzu bedrohlichen Eindruck zu machen. Immerhin waren Kandah und Gehir mit Speeren bewaffnet, Alek trug seine große Axt und Toon seinen Jagdbogen über der Schulter.
Noa erschrak heftig, als auf ihrem Weg in einiger Entfernung plötzlich Gestalten auftauchten. Selbst aus der Ferne, konnte man sehen, dass sie alle Bögen oder Speere mit sich trugen und nicht gerade gastfreundlich aussahen.
Hektisch tippte sie ihren Vater an. „Guck mal! Da!" Er sah auf und erspähte die kleine Truppe, ebenso wie der Rest ihrer Gruppe.
„Überlasst mir das Reden", wies Mika sie nur an. „Wenn sie aus Monua sind, sind sie unsere Freunde. Sie sind Abrama wie wir."
Sie stoppten, als sie in Rufweite waren.
„Wer seid ihr?", fragte der mittlere Mann mit dem Speer unvermittelt und ohne Grußformel. Seine Kleidung bestand zum Großteil aus Fellen und sein Kopf war komplett kahl geschoren. Seine Miene war alles andere als freundlich.
„Wir sind Reisende aus Alura, ehrenwerter Keito.", erwiderte Mika in unterwürfigem Ton und - dazu nicht ganz passend - einem warmen Lächeln. Er war einen Schritt nach vorne getreten und stand dem Mann nun gegenüber. Dieser runzelte die Stirn, bevor sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht stahl und er laut auflachte.
„Mika? Willkommen! Mensch, mit deinem Bart und in Gesellschaft habe ich dich gar nicht erkannt, alter Freund! Was führt dich zu uns?" Die Monua hatten sich nun sichtlich entspannt und die Speer- und Pfeilspitzen senkten sich.
„Wir sind nur auf Durchreise", sagte Mika, während er auf den großen Mann neben sich zeigte. „Das ist Kandah, Stammesführer der Alura. Wir bitten um eine Unterkunft für eine Nacht."
Der Mann mit der Glatze machte eine ehrenvolle Geste. „Ihr seid herzlich Willkommen, Kandah und eure Begleiter. Ich bin Keito, Anführer der Monua. Ein Platz an unseren Feuern ist jederzeit für euch bereit."
Keito und seine Männer führten sie in das Dorf, das in einer bewaldeten Senke zwischen zwei Hügeln lag. Die Hütten waren dichter zusammengedrängt als in Alura und es schienen viel mehr zu sein. Sie waren nun eine große Gruppe und wurden von den Bewohnern angestarrt, mal misstrauisch aber meistens neugierig. Kinder sprangen um sie herum, manche Männer und Frauen riefen ihnen Begrüßungen zu. Mehrere schienen Mika wiederzuerkennen und bald schon umringte ihn eine kleine Menge aus Frauen und Männern, die ihn mit Umarmungen oder Schulterklopfern willkommen hießen.
„Siehst du die blonde Frau mit den Sommersprossen neben ihm?", sagte Gehir zu Alek, gerade so laut, dass Noa es mithören konnte. „Ich glaube Mika hatte mit der mehrere Male was. Sie war schon mehrmals in Alura."
Die Frau löste sich nun aus der Gruppe um Mika und gesellte sich zu ihnen. Sie hatte ihre strohblonden Haare zu kompliziert aussehenden Zöpfen geflochten und, zusammen mit ihrem spitzen Gesicht, verlieh es ihr eine gewisse Jugendlichkeit. Sie war sehr groß für eine Frau und hatte eine breite Statur. Ihr Vater und alle anderen schienen sie zu erkennen, doch Noa hatte sie noch nie gesehen.
„Hallo, wer bist du denn?", fragte sie Noa neugierig. Sie erschrak, als sie persönlich angesprochen wurde. Diese Frau war eine Fremde, wie alle hier in diesem Dorf. Noa war nie schüchtern gewesen, doch hatte sie auch noch nie mit Unbekannten geredet, denn sie kannte ja schließlich jeden in Alura.
„Das ist meine Tochter Noa", erklärte ihr Vater stattdessen und löste somit die Anspannung, die wegen der langen Pause geherrscht hatte.
„Sie sieht dir sehr ähnlich, Tilo. Ich bin Nova", stellte die Frau sich vor, als wäre nichts passiert und plapperte munter weiter. „Ich bin vor langer Zeit öfter in Alura gewesen, da warst du glaube ich noch gar nicht auf der Welt." Nova schien sehr nett zu sein, doch sie wusste einfach nicht, wie man auf so etwas antwortete, doch sie brauchte gar nicht antworten, da die Frau sich umwandte und nach jemandem rief.
Ein Junge, der ungefähr so alt wie ihr Cousin Mijo sein musste, kam herbei. Er sah Nova sehr ähnlich, hatte die gleichen Gesichtszüge und die gleichen Haare, nur dass seine Zöpfe kurz und über seinen ganzen Kopf verteilt waren. Sie verliehen im etwas Wildes. Er sah die Neuankömmlinge der Reihe nach an und der Blick seiner tiefblauen Augen blieb an Noa hängen. Einen scheinbar ewigen Moment lang sahen sie sich in die Augen und sein Blick schien sie zu durchlöchern. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln, dass in Noa jeden Muskel zwang sich anzuspannen. Unwillkürlich zogen sich auch ihre Mundwinkel zu einem zaghaften Lächeln, doch der Junge hatte sich bereits zu Nova gedreht.
„Was gibt es, Mutter?", fragte er unbekümmert. Niemand schien diesen Moment zwischen den beiden bemerkt zu haben, doch die frische Erinnerung an seinen Blick ließ etwas in ihrem Magen rumoren. Es war bestimmt der Hunger, denn die Sonne stand schon tief und würde bald untergehen.
„Das sind Freunde von mir aus Alura, Edin. Bring ihr Gepäck in unsere Hütte." Edin gehorchte und streckte bereits die Hand nach Noas Gepäck aus, dass sie ihm mit zitternder Hand übergab. Er konnte die Sachen von Allen natürlich nicht alleine tragen, weshalb Alek und Gehir mit ihm gingen. Keito, der Stammesführer der Monua, nahm Kandah mit um mit ihm unter vier Augen in seiner Hütte zu reden, weshalb nur Noa und ihr Vater mit Nova übrig blieben.
„Kommt mit!", sagte die Frau. „Ich führe euch im Dorf herum."
Sie machten sich auf, während Nova im Plauderton ihnen die vorbeikommenden Leute vorstellte. Manche von ihnen blieben für ein paar Sätze stehen, schüttelten Noa und ihrem Vater die Hand und gingen wieder von dannen. Nova berichtete ihre Berufe und wer alles zu ihren Familien gehörte, doch es war so viel, dass Noa es sich kaum merken konnte.
„Wie geht es Ana?", fragte die große Frau beiläufig.
„Gut", antwortete ihr Vater. „Sie macht sich natürlich Sorgen wegen unserer Reise, aber sonst..."
„Wohin seit ihr denn unterwegs?"
„Zum Markt nach Nihilo. Wir wollen unseren Handel etwas stärken."
Nova stutze. „Nihilo? Wieso ausgerechnet dorthin?"
„Dort soll es viele Menschen und einen großen Markt geben." Ihr Vater wurde hellhörig „Stimmt etwas nicht mit Nihilo?"
„Es ist sehr weit bis dorthin. Es gibt doch bestimmt nähere Orte, die einen großen Markt haben. Einen Teil würdet ihr bestimmt sogar hier im beschaulichen Monua loswerden."
„Wie weit genau ist Nihilo von hier entfernt?", fragte ihr Vater eindringlich nach und Nova überlegte.
„Es liegt weit im Süden an der Küste, bestimmt eine Woche von hier entfernt". Noa bemerkte nicht, wie ihr Vater hörbar nach Luft schnappte.
„Warst du schon einmal da?", fragte Noa neugierig, weil sie unbedingt mehr über diesen Ort erfahren wollte.
„Nein leider nicht" Ihre Augen hatten einen träumerischen Ausdruck bekommen. „Früher war ich viel auf Reisen, doch bevor ich nach Nihilo gehen konnte, bin ich mit Edin schwanger geworden und konnte dann nicht mehr." Sie wurde von einem Mädchen abgelenkt, dass auf sie zugelaufen, und als es sie bemerkt hatte stehen geblieben, war. Es konnte höchstens vier Jahre alt sein und hatte sich erschrocken, schien Nova jedoch zu erkennen.
„Hallo Nina", begrüßte die Frau die Kleine.
„Wer is das?", fragte das Mädchen mit hoher, neugieriger Stimme.
„Das sind Tilo und Noa aus Alura.", erklärte Nova der Kleinen, die sich am Kopf kratzte. Schließlich kam sie zu einer Erkenntnis. „Die sehn komisch aus!", rief sie und lief weg.
Nova und ihr Vater lachten, während Noa sich betrachtete. Sie bemerkte erst jetzt, dass sie und ihre Kleidung komplett verdreckt waren. Ihre Haare waren ganz unordentlich und zerzaust. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr sehr wohl und wünschte sich den Dreck abwaschen zu können. Aus irgendeinem Grund musste sie daran denken, dass Edin sie so gesehen hatte und konnte sich nicht erklären, warum ihr das so viel ausmachte.
„Gleich wird es ein kleines Festessen geben", sagte Nova gerade. „Komm mit Noa, wir machen dich vorher noch ein wenig hübsch." Entweder konnte die Frau Gedanken lesen oder sie war Noas Blick gefolgt.

Bald darauf saß sie frisch gewaschen und mit neuer Kleidung aus Leinen, so wie sie sie auch in Alura getragen hatte, an einem großen Lagerfeuer und aß eine Ziegenkeule. Es gab nicht oft Fleisch in Alura, aber hier in Monua schienen sie viele Ziegen zu haben, die nur darauf warteten gegessen zu werden.
Um ihr Feuer saßen alle Alura, dazu Nova, Keito und einige andere Monua, während sie genüsslich aßen oder Neuigkeiten austauschen.
„Also in Alura ist alles beim Alten", erzählte Gehir gerade mit seiner grölenden Stimme. „Das Meer ist blau und das Korn zu welk." Er lachte laut und nahm einen kräftigen Biss von seinem Stück Ziege. „Und was ist hier so passiert?"
Keito wartete mit der Antwort, bis er sein Essen herunter geschluckt hat. „Auch nicht viel. Aber man hört so einige Geschichten, die sicherlich nicht immer bis Alura dringen. Irgendwo im Gebirge hat man wohl merkwürdige Steine gefunden, die angeblich magische Wirkungen haben. Vor vier Wochen war ein Händler hier, der uns Steine verkaufen wollte, die angeblich gegen Böses und verschiedene Krankheiten wirken sollten. Dieser Narr hat zwei Säcke Brot pro Stück verlangt, ist aber ziemlich schnell abgezogen, als er gemerkt hat, dass er sie nicht verkauft bekommt."
„Also ich von ihm ja verlangt, dass er einen Beweis für die Wirkung bringt.", sprach Gehir dazwischen.
„Der kleine Temm hatte sich den Arm gebrochen ein paar Tage nachdem er hier angekommen ist.", erzählte nun Nova, die auffällig nah bei Mika saß. „Er versprach, dass ein blauer Edelstein, den er bei sich trug, seine Schmerzen lindern würde. Ich habe ihn gelassen und gesagt: Wenn es wirkt, nehme ich einen seiner tollen Steine."
„Und?" ,fragte Gehir, der aufmerksam zugehört hatte.
Nova lachte. „Es hat natürlich nicht geklappt, also habe ich Temm wie gewohnt einen Kräuterverband angelegt, den Arm fixiert und ihm einen Monat Ruhe befohlen."
„Du bist Heilerin?", fragte Noa neugierig, zwischen zwei Bissen.
„Nicht mit vollem Mund sprechen", maßregelte ihr Vater sie. Er wirkte missmutig und verstimmt und beteiligte sich kaum an den Gesprächen.
„Ja, könnte man so sagen", antwortete Nova und überging die Bemerkung ihres Vaters. „Ich habe viele Orte der Welt gesehen und unterwegs viel über Krankheiten, Verletzungen und den Kräutern mit denen man sie behandeln kann gelernt. Ein Einsiedler hat mir mal ein ganzes Buch über heilende Pflanzen geschenkt."
„Hieß der Einsiedler zufällig Lie?", fragte Noa aufhorchend. Bücher waren sehr wertvoll und es würde Lie ähnlich sehen so etwas zu verschenken. In Alura gab es nur ein einziges Buch, und das hütete Thes wie einen Schatz, denn in diesem Buch standen alle Geschichten und Gebete, die Thes ihnen beibrachte. Noa konnte nicht lesen, somit waren Bücher für sie nichts als ein Klumpen Papier.
„Seinen Namen habe ich leider vergessen", antwortete Nova bedauernd.
„Bestimmt war es Lie!", hielt Noa jedoch an ihrer Vermutung fest. „Ich frage ihn, wenn wir wieder zurück sind."
„Gibt es irgendwelche Nachrichten, die für unseren weiteren Weg wichtig sind?", fragte Mika und wechselte so das Thema.
Keito antwortete wieder. „Nun, es gibt Gerüchte, dass große, fliegende Maschinen am Himmel gesichtet wurden."
„Fliegen die zum Mond?" Noa unterbrach in unsanft und sah sich verwundert um, als alle – bis auf ihren Vater und Kandah – anfingen zu lachen. „Lie hat mir erzählt, dass es Maschinen gibt, die zum Mond fliegen könnten!"
„Dieser Lie scheint ein sehr interessanter Mann zu sein", meinte Nova im allgemeinen Gelächter.
„Solche Gerüchte gibt es immer", sprach Kandah mit ernster Stimme nun zum ersten Mal, als alle sich wieder ein wenig beruhigt hatten.
„Dieses Mal scheinen einige Leute aber überzeugter zu sein als sonst"", antwortete Keito. „Es hat sich eine Art Sekte entwickelt, die sich ausgebreitet hat und für Unruhe sorgt. Sie sollen ein Kloster niedergebrannt haben, ziehen in kleinen Gruppen von Ort zu Ort und verbreiten ihre Ansichten und rufen dazu auf, sich ihnen anzuschließen. Die zwei Männer von hier haben sich vor sechs Wochen aus dem Staub gemacht, wahrscheinlich in Richtung Aule, wo sie ihren Stützpunkt haben."
„Aule liegt nicht auf unserem Weg", schaltete sich Mika ein. „Das wird kein Problem für uns sein."
„Hütet euch trotzdem vor diesen Menschen! Sie sind verschlagen und aggressiv, bestimmt sind einige von ihnen bis nah Nihilovorgedrungen."
Noas Essen schmeckte ihr sehr gut, weshalb sie nur halb den weiteren Gesprächen lauschte. Viel mehr beobachte sie das Treiben der vielen unbekannten Menschen hier im Dorf, die an anderen Feuern saßen, lachten oder erzählten. Sie fühlte sich ein wenig fremd, obwohl die Menschen freundlich schienen und das ganze Dorf Alura nicht unähnlich war. Die Hütten waren aus den gleichen Bäumen und die Leute saßen an den gleichen Feuern. Nur das Meer fehlte ihr. Der Wind, der einem ins Gesicht schlug, das Rauschen der Wellen, der salzige Geruch und das ewige Blau, dass sich bis zum Horizont erstreckte. Das Alles bereitete ihr ein Gefühl, dass wohl Heimweh sein musste.
Etwas traf sie am Hinterkopf. Es tat nicht allzu sehr weh, ließ sie aber aus ihren Gedanken hochschrecken und sich hastig umdrehen. Sie spähte zu den Hütten, die den Platz umringten und in dem von den Flammen geworfen Schatten im Halbdunklen lagen. Sie konnte nichts erkennen außer Dunkelheit.
Wieder wurde sie von etwas getroffen. Es war ein geworfener Stein, der schmerzhaft gegen ihr Knie prallte und anschließend wegkullerte. Nun hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt und machte eine Bewegung aus. Eine Gestalt stand an der Ecke einer Hütte und winkte sie zu sich.
Noa sah sich wieder zur Feuerstelle um, nur um sicherzugehen, ob sie wirklich gemeint war. Jedoch hatte niemand etwas gemerkt. Gehir, Mika, Nova, Keito und ein paar andere Männer aus Monua, die Noa nicht kannte, waren in einem Gespräch vertieft, während Toon die letzten Fleischreste an einem Knochen behutsam abnagte und Alek einen kleinen Holzblock und sein Messer zum Schnitzen hervor geholt hatte. Kandah und ihr Vater starrten beide mit abwesendem Blick ins Feuer und schienen wie schon den ganzen Abend unglücklich.
Noa drehte sich wieder zu der Gestalt in der Ferne. Sie meinte einen blonden, mit Zöpfen besetzten, Haarschopf zu erkennen. Edin schien ungeduldiger zu werden und bückte sich, um vielleicht einen weiteren Stein nach ihr zu werfen. Zu ihrem Heimweh gesellte sich nun ein anderes, unangenehm aufregendes Gefühl, dass ihre Traurigkeit in den Hintergrund rücken ließ.
Hastig blickte sie noch einmal zu ihrem Vater zurück, der unverändert bedrückt dasaß, und stand leise auf.

„Was soll das? Willst du mir eine Platzwunde verpassen?", fragte Noa Edin erzürnt, als sie sich aus der Rufweite der Erwachsenen wähnte.
Der Junge zuckte jedoch nur mit den Schultern. „Wenn du sonst nicht hörst... Komm mit oder willst du dich noch länger bei denen langweilen?"
Er führte sie einen kurzen Weg durch das Dorf, während das Knacken des Feuers und die lauten Stimmen der Leute immer weiter verblassten. Ihr Ziel war ein kleineres Feuer auf einer kleinen Anhöhe, dass unweit einer großen Pinie entfacht worden war. Es war ein schöner Platz, da man von dort über viele Hausdächer und Baumwipfel gucken konnte und andere bewaldete Hügel in der Ferne betrachten konnte, die sich dunkel vom klaren Himmel abhoben.
Als sie bemerkte, dass dort auf einem umgekippten Baum eine paar Jungen und Mädchen saßen, machte sich ein wenig Enttäuschung und Unbehagen in ihr breit. Sie hatte gedacht, dass sie mit Edin zu zweit irgendwo hingehen würde, die baldige Bekanntschaft mit weiteren Unbekannten Menschen machte sie nervös.
Edin hatte wohl gemerkt, dass sie ängstlich langsamer geworden war und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt, was sie gleichsam unangenehm, als auch aufregend fand.
„Keine Angst, das sind Freunde von mir. Die sind schon in Ordnung."

„Hi Leute, das ist Noa", stellte Edin sie vor, als sie in den Schein des Lagerfeuers getreten waren. Alle waren verstummt und musterten Noa neugierig. Niemand begrüßte sie oder schien gewillt ihre Hand zu schütteln. Sie gafften sie einfach nur an, sodass Noa sich nervös durch die Haare fuhr, in der Angst immer noch den Dreck von der Reise in ihren Haaren kleben zu haben.
„Also das ist Misha, die beiden Mädchen daneben sind Ira und Eda." Edin deutete auf einen stämmigen Jungen mit kurzgeschorenen Haaren und breiten Schultern – Misha – und zwei kichernde Mädchen eine mit hellblonden, die andere mit roten Haaren. Eda, die Blondine, hatte Ira wohl mit einem abschätzigen Blick in Noas Richtung etwas zu geflüstert, jedoch so leise, dass Noa es nicht verstand. Beide Mädchen schienen etwas älter als sie und hatten ihre Haare in einer aufwändigen Flechtfrisur hochgesteckt. Noa entdeckte an dem großen Baum gelehnt ein Pärchen auf der Erde sitzen, die sich eng umschlungen küssten und sich kaum an ihrer Anwesenheit oder der der anderen zu stören schienen. Edin hatte ihren Blick bemerkt und schmunzelte.
„Das sind Teko und Mera. Versuch nicht sie zu stören, ich sage dir, das würdest du eh nicht schaffen." Edin setzte sich gegenüber von Misha und den zwei Mädchen, während Noa immer noch mit aufkeimendem Ekel Mera und Teko betrachtete, die mit ihren Gesichtern aneinandergeklebt schienen. Noa wurde auf einmal peinlich bewusst, dass sie das Pärchen immer noch anstarrte und ließ sich hastig neben Edin nieder.
„Du kommst also aus Alura?" ,fragte Ira sie mit einem Lächeln, dass Noa irgendwie aufgesetzt vorkam. Sie sagte nichts und nickte nur.
„Wie ist es da? Wie sieht es bei euch aus?", fragte die Rothaarige weiter.
Trotz das Noa es ausgesprochen unangenehm fand im Mittelpunkt zu stehen, fasste sie ein wenig Mut und begann zu erzählen: „Also es sieht nicht so anders aus als hier. Wir haben auch einen Wald und einen Berg. Ach ja und das Meer, das ist toll! Habt ihr schon einmal das Meer gesehen?"
Alle schüttelten den Kopf.
„Keiner von euch?", fragte sie schockiert nach.
„Genauso wie du anscheinend noch niemanden herumknutschen gesehen hast", antwortete Ira jetzt belustigt und machte nach, wie Noa zuvor Teko und Mera angestarrt hatte. Ira und Eda kicherten los und Misha brüllte vor Lachen mit tiefer Stimme. Zu Noas Bestürzung lachte auch Edin.
„Küssen die Leute bei euch nicht?", setzte Ida noch einen drauf.
„D-doch", antwortete Noa, die sich sichtlich noch schlechter fühlte. Sie traute sich nicht mehr zu sagen, denn irgendwie hatte sie Angst, sich falsch oder dumm zu verhalten.
„Hey Edin, guck mal was ich besorgen konnte!", wechselte Misha das Thema, als er sich von einem Lachanfall erholt hatte. Er griff hinter sich und holte einen Krug heraus.
Edins Augen weiteten sich. „Ist das etwa...?"
„Wein aus Mosu", erklärte Misha feixend und genehmigte sich einen großen Schluck aus dem Krug. „Willste auch was?"
„Klar", antwortete Edin begeistert. „Gib her!"
„Aber hast du dir das verdient?", überlegte Misha mit übertrieben gespielter Mimik. „Ich glaube du musst dich vorher noch in einer Mutprobe erweisen. Wie wäre es damit: Wenn du dich traust, eins der hier anwesenden Mädchen zu Küssen, dann kriegst du die Hälfte ab."
Edin schien das Angebot abzuwägen. „Wohin küssen?"
„Natürlich auf den Mund!", antwortete der große Junge und lachte abermals. Ira und Eda kicherten und giggelten bei diesen Worten, wohingegen Noa noch unruhiger wurde. Sie stellte sich vor, wie Edin sie jetzt auf der Stelle küssen würde und ihr wurde ganz schwindelig dabei. Sie fand die Vorstellung faszinierend, aber sie kannte ihn nicht mal einen Tag lang.
„Aber kein Problem!", sagte Edin leichthin und stand auf. Als er zu Ira und Eda hinüber hüpfte, war Noa auf eine Weise erleichtert, als er sich jedoch zu dem rothaarigen Mädchen herunterbeugte und es laut schmatze, kroch in ihr eine Mischung aus Eifersucht und Übelkeit hoch. Idas Augen leuchteten jedoch, als Edin sich wieder mit federndem Gang und selbstgefälligem Gesichtsausdruck neben Noa setzte. Misha schien ehrlich beeindruckt und reichte ihm den Weinkrug herüber, während Eda erstaunt aufkeuchte, nur um einen Moment später mit Ira zusammen zu ihrem gewohnten Kichern zurückzukehren. Mera und Teko hatten davon nichts mitbekommen und behagten sich weiter gegenseitig.
„Na? Eifersüchtig, Glubschi?" Die Frage kam von Ira und hatte sie wahrscheinlich an Noa gerichtet, doch Noa reagierte nicht. Sie fröstelte und der Platz um das Lagerfeuer, der vorhin gemütlich und einladend ausgesehen hatte, löste bei ihr nur noch Unbehagen an. Er widerte sie an, die Anderen widerten sie an. Sie waren so fremd und irgendwie ganz anders als ihre Freunde in Alura. Geistesabwesend stand sie auf. Die anderen sagten etwas, doch es drang nicht mehr an ihr Ohr. Ihre Instinkte hatten die Kontrolle über ihren Körper übernommen. Unsicheren Schrittes wankte sie fort. Fort von dem Feuer, fort von Edin, Ira und ihren anderen blöden Freunden. Hinter ihr wurde gelacht, eine Stimme rief ihr nach. Es war die Edins, und eine einzelne ihrer Faser wünschte sich, dass er ihr nachlaufen würde. Doch alles andere in ihr wünschte, er würde ihr für immer fern bleiben. Warum hatte sie ihn überhaupt kennen lernen müssen? Die Geräusche und der Lärm um das Lagerfeuer ebbten ab bis Noa nur noch von der Schwärze der Nacht umgeben wurde.


Die dritte SintflutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt