Am nächsten Morgen erwachte Noa mit mäßiger Laune. Ihr Vater und sie hatten in einer von drei Kammern in Novas Hütte geschlafen, während die anderen Gruppenmitglieder sich auf andere Häuser verteilt hatten. Über einen Haufen Stroh hatte man ein Laken gespannt und dieses provisorische Bett war hundertmal angenehmer gewesen, als der harte Boden die Nacht zuvor. Lange hatte Noa noch wach gelegen und schlecht gelaunt über das Passierte nachgedacht, nur hatte sie nicht so leicht Schlüsse daraus ziehen können.
Ihr Vater hatte schon längst mit tiefem Atem unweit von ihr geschlafen, als Nova und Mika an ihnen vorbei in einen anderen Raum schlichen und sich bemühten, möglichst wenig Geräusche zu machen. Es hätte besser funktioniert, wenn beide dabei nicht so sehr gekichert hätten, aber ihr Vater hatte nichts mitbekommen und Noa war sowieso schon wach gewesen, auch wenn sie sich schlafen gestellt hatte. Viel später in der Nacht war Edin zurückgekehrt. Es war zu dunkel gewesen, so konnte Noa seine Silhouette nicht erkennen, aber an seinem federnden, leichtfüßigen Gang hatte sie ihn dann doch identifiziert. Einen Moment lang war er stehen geblieben, wie als wolle er um Noas ungewöhnlich lauten Herzschlag horchen, der sich bei seinem Eintreten deutlich erhöht hatte. Doch dann war er mit leisen Schritten weiter zu seinem Zimmer gegangen und hatte die Tür leise geschlossen.
Als Noa endlich in den Schlaf fand, verweilte sie gefühlt nur wenige Minuten dort, bis ihr Vater sie weckte.
Die Sonne hatte ihre Strahlen noch nicht über die Hügel geworfen, so war Monua in Dämmerlicht gehüllt, als die Gruppe aus Alura sich zum Aufbruch zusammen fand. Viel weniger Menschen als bei ihrer Ankunft waren schon wach, um sie zu verabschieden. Unter ihnen waren Keito, bei dem sich Kandah bedankte, und die beiden Häuptlinge riefen die Freundschaft ihrer Stämme aus. Auch Nova war aufgestanden und flüsterte Mika Abschiedsworte ins Ohr, während sie sich umarmten.
Den ganzen Vormittag wanderten sie auf einem Pfad, den sie von den Monua gezeigt bekommen hatten und der durch mehrere Siedlungen führte. Es war viel angenehmer auf platt getretener Erde zu laufen, als sich durch das dichte Gestrüpp in einem Wald durchzuschlagen. Sie gingen nun viel schneller als an den Tagen zuvor, sodass Noa Mühe hatte, mit den langen Beinen der Männer Schritt zu halten. Außerdem schmerzten ihre Schultern, auf denen sich bereits rote Striemen von der Last ihres Rucksacks abzeichneten, dessen Gurte ihr fortwährend ins Fleisch schnitten. Gehir war der erste, der gegen Mittag zu Jammern anfing und nach einer Rast bat. Mehrfach beklagte er sich über Kopfschmerzen und wie weh ihm doch seine Füße täten. Doch seine Bitte wurde nicht erhört und sie marschierten weiter. Auch als Mittag schon vorbei war, hielten sie nicht für eine kurze Rast an. Zwischen den Zeilen hatte Noa mitbekommen, dass ihr neues, eiliges Tempo auf Bestehen ihres Vaters durchgesetzt wurde. Offenbar war der Weg nach Nihilo doch weiter als gedacht und wenn sie zu langsam waren, würde der Fisch, dessen Gewicht auf ihren Schultern lastete, schlecht werden, und die ganze Reise wäre umsonst gewesen.
Sie folgten dem schmalen Pfad den ganzen Tag. Manchmal stieg er rasch an, wurde kurz von einem kleinen Bach durchkreuzt, oder war für mehrere Meter mit Gras bewachsen, sodass man aufpassen musste, nicht von ihm abzukommen. Von Weitem sahen sie mehrere Siedlungen an denen sie jedoch vorüber gingen ohne anzuhalten.
Als Noa bei jedem Schritt umzukippen drohte, hielten sie irgendwann endlich an. Gehir ließ sich theatralisch auf die Erde nieder, während Toon sich mit dem unteren Ende seines Hemdes Schweiß von der Stirn wischte. Sie tranken ausgiebig und aßen eine Kleinigkeit bevor es direkt wieder weiterging. Die Laune in der Gruppe war im Laufe des Tages stark gesunken. Niemand hatte mehr etwas erzählt, geredet oder nur einen Witz gemacht. Es wurde gestöhnt, geflucht, und schnell ein und ausgeatmet. Als die Sonne sich neigte und bald zu versinken drohte, hatten sie nur diesen einen kurzen Halt gemacht.
„Mir reicht es!", rief Gehir und blieb demonstrativ stehen. „Ich kann nicht mehr! Wenn wir weiter in diesem Tempo laufen sind wir alle am Herzinfarkt gestorben ehe wir nur ansatzweise in Nihilo sind!"
„Wir gehen nur noch ein kleines Stück, dann war es das für heute", versuchte Mika versöhnlich zu klingen, doch Gehir schien sich nicht so leicht überzeugen zu lassen.
„Nur noch ein kleines Stück? Das rede ich mir jetzt schon seit Stunden ein. Nihilo rennt uns nicht weg. Ich sage, wir schlagen hier unser Lager auf."
„Wir müssen uns weiter beeilen, sonst ist der Fisch nicht mehr gut genug, um ihn auf dem Markt zu verkaufen!" Noas Vater sprach heftig und bestimmt, ganz anders als Noa es von seiner sanften Stimme gewöhnt war.
„Zum Teufel mit dem Fisch!", fluchte Gehir und stellte nun auch demonstrativ sein Gepäck auf dem Weg ab.
„Hier ist es nicht sicher zu lagern", versuchte Toon ihn auf eine andere Art zu überreden. „Hier sehen wir wenig und könnten leicht überfallen werden."
„Ich will auch nicht weiter gehen!" Nicht nur Noa war überrascht, als Alek, der schweigsame Holzfäller, sprach. Sonst mischte er sich nie in Diskussionen ein und redete nur im Notfall. „Aber wir müssen uns beeilen, als los." Mit seinen starken Armen packte Alek das schwere Gepäck seines Freundes Gehir zusätzlich zu seinem eigenen auf die Schultern und marschierte voran. Da Gehir sich so schlecht weiter wehren konnte, ohne als Schwächling dar zustehen, fügte er sich grummelig und trottete hinterher.
„Nicht weit von hier müsste eine kleine Siedlung liegen, wo wir für die Nacht unterkommen können", erklärte Mika.
Die wenigen Hütten, die sie noch eine ganze Stunde später erreichten, waren von einer kleinen Holzpalisade mit einem schmalen Tor umgeben.
Ein misstrauisches Augenpaar beäugte sie durch einen Schlitz im Tor, ohne dieses auch nur einen Spalt breit zu öffnen.
„Was wollt ihr?" In der Stimme klang deutlich mit, dass sie hier nicht erwünscht waren.
„Wir sind Reisende aus Alura, die eine Unterkunft für diese Nacht suchen.", antwortete Mika dennoch in einem freundlichen Ton.
„Nie von diesem Alura gehört."
„Es ist ein Dorf an der Küste, drei Tagesmärsche von hier."
„Ah ja? Woher soll ich wissen, dass ihr nicht zu dem dreckigen Pack gehört, dass friedliche Menschen wie uns ausrauben und bestehlen will."
„Wir sind keine Räuber!" Mika konnte seine Empörung kaum verbergen. „Wir haben ein kleines Mädchen dabei"
Unbehaglich sah Noa, wie die Augen hinter dem Tor zu ihr hinüber spähten und sie von oben bis unten abschätzend musterten.
„Jetzt macht schon das verdammte Tor auf!", rief Gehir ungeduldig dazwischen. „Wir sind den ganzen Tag gelaufen und ich verhungere gleich!"
„Geht nicht. Sucht euch eine andere Unterbringung."
„Wie es geht nicht?", fluchte Gehir aufgebracht. „Macht das verdammte Tor auf, sonst treten wir es ein!" Er machte Anstalten genau dies zu tun, doch wurde von Kandah mit einer bestimmten Handbewegung zurück gehalten.
„Schert euch weg!", brüllte die Stimme nun zurück. „Wir ihr ausseht gehört ihr auch zu diesem Pack, dass an Menschen aus dem Himmel glaubt und mit allen Mitteln unser Hab und Gut einsammeln will! Fort mit euch!"
Niedergeschlagen suchten sie sich einen Platz zum Lagern und bauten dort ihre Zelte auf. Es wurde ihnen deutlich erschwert, da es mittlerweile schon vollkommen düster war.
„Was meinte der Mann damit, dass wir zu Leuten gehören, die an Menschen aus dem Himmel glauben?", fragte Noa ihren Vater, nachdem sie ihre Schlafstätten aufgebaut hatten und sie endlich erschöpft zu Ruhe gekommen war.
Ihr Vater seufzte schwer eher er antwortete. Auch ihm hatte der Gewaltmarsch jegliche Energie geraubt und er schien am Ende seiner Kräfte zu sein.
„Er meinte, dass wir zu den Flama gehören. Gestern beim Feuer wurden wir von ihnen gewarnt. Es sind Leute, die der festen Überzeugung sind, dass unser Gott und unser Glaube falsch sind. Sie meinen Beweise dafür zu haben, dass es Menschen gibt, die in großen Maschinen fliegen können und über den Himmel ziehen. Zu ihnen beten sie und hoffen, dafür beschenkt zu werden."
„Bestimmt gibt es solche Maschinen! Lie hat schon..."
„Jetzt sei nicht albern!", fuhr ihr Vater sie heftig an. „So sehr du dich auch dagegen wehrst, du kennst Thes und die alten Geschichten. Maschinen zu bauen, die fliegen können, ist absolut unmöglich und absurd! Diese Leute, die das verbreiten sind Verbrecher. Sie verlangen, dass man sich ihrer Sekte anschließt und sich ihnen komplett hingibt. Sie ziehen in Banden los, auf der Suche nach Nahrung, Waffen, Gegenständen mit besonderen Kräften und neuen Leuten, die sich ihnen anschließen wollen. Sie kommen in die Dörfer und wenn sie merken, dass man ihnen nichts geben möchte, drohen sie oder brennen direkt alles nieder! Diese Flama sind keine friedlichen Menschen und wir müssen froh sein, dass sie es noch nicht nach Alura geschafft haben."
Es herrschte einen Moment Stille, in dem Noa verarbeiten musste, was ihr Vater ihr erklärt hatte.
„Aber das heißt doch nicht, dass es diese Maschinen nicht doch geben könnte, oder? Vielleicht kann man sie sogar bauen?"
„Ach, jetzt hört auf mit dem Unsinn!", schimpfte ihr Vater jetzt förmlich. „Du solltest langsam begreifen, dass Lies Erzählungen nicht immer der Wahrheit entsprechen müssen."
Jetzt war es Noa, die empört war. „Lie lügt nicht! Und er gehört auch nicht zu diesen Verbrechern! Er ist mein Freund!"
„So meine ich das doch gar nicht, Noa Schatz", versuchte er es jetzt eine Spur sanfter. „Lie ist ein freundlicher, aber einsamer und alter Mann. Er erzählt gerne Geschichten, aber manchmal sind es eben einfach nur Geschichten." Er sah seine Tochter mit einem leidenden Gesicht an. Er wollte sie damit nicht verletzten, sondern sie nur vor Lügen schützen.
„Und die alten Geschichten sind nicht einfach nur Geschichten?", bohrte Noa immer noch wütend nach. Wenn ihre Wut nachlassen würde, würde sie wahrscheinlich weinen, und das wollte sie nicht.
Lange sah ihr Vater sie schweigend an. „Diese alten Geschichten, wurden von Generation zu Generation, von Eltern zu Kindern, weitergegeben und streng behütet. Sie sind ein Schatz, denn sie sind das, was von unseren Vorfahren übrig ist. Uns bleibt nichts anderes übrig, als an sie zu glauben, denn sonst wird es in unseren Herzen düster und voller Chaos. Und jetzt schlaf, Noa. Morgen wird wieder ein anstrengender Tag."
Als Noa am nächsten Morgen geweckt wurde, tat ihr alles weh. Ihre Schultern und Beine schmerzten höllisch, sie wünschte sich nichts sehnlicher, als einfach liegen zu bleiben und weiterzuschlafen. Sie fühlte sich, als hätte sie kaum geschlafen. Ihr Körper schien sich zu weigern, so sehr Noa ihn zwingen wollte aufzustehen. Irgendwie schaffte sie es doch, sich auf die Füße zu stellen und ihren schweren Rucksack auf die Schultern zu laden. In der Zwischenzeit hatten die Männer die Zelte abgebaut und Kandah befahl zum Aufbruch. Fast allen aus der Gruppe schien es ähnlich zu gehen wie Noa. Toon gähnte unentwegt, Gehir machte ein noch finsteres Gesicht als am Abend zuvor und Alek war stumm und ausdruckslos wie immer. Selbst Kandah schien die Reise zu ermüden, er wirkte kleiner und ungefährlicher als sonst. Noas Vater schien bei ausgesprochen guter Laune zu sein. „Heute Abend können wir vielleicht schon in der Ferne die rauchenden Kamine von Nihilo sehen.", versuchte er Noa aufzumuntern und fügte mit einem kurzen Seitenblick hinzu: „Stimmt doch Mika, oder?"
„Das kann gut sein, wenn wir heute wieder ein ordentliche Strecke schaffen", antwortete Mika ein wenig ausweichend. Ihm schien das viele Gehen und der wenige Schlaf am wenigsten etwas auszumachen.
Ihr Marsch war genauso schlimm wie am Tag zuvor. Ihr Vater, der mittlerweile an der Spitze ging, schien nicht gewillt eine Pause zu machen. Mika und Kandah, die einzigen, die ihn davon hätten abhalten können, schwiegen. Gehir, der gegen Mittag wieder seine üblichen Schimpfereien über ihr pausenlos schnelles Tempo losließ, ging bald die Puste aus und er konzentrierte sich immer mehr darauf, einfach immer nur einen Fuß vor den anderen zu setzten.
Auch Noa hatte keine Kraft zu quengeln oder sich zu beschweren. Außerdem war seit ihrem Aufenthalt in Monua ein neues Gefühl gewachsen. Sie wollte sich und der ganzen Welt zeigen, wie mutig und wie stark sie war. Was kümmerte sie ein Haufen dummer Kinder oder ein Edin, der mit seinen vielen kurzen, blonden Zöpfen auch eher angeberisch als wild aussah, wie sie sich einredete.
Es war der bisher schwerste Tag ihrer Reise, da sie nicht mal mehr zum Essen Halt gemacht hatten. Sie wanderten weiter in einer immer karger werdenden Berglandschaft. Ihr Weg führte oft aufwärts, schlängelte sich an Berghängen entlang und fiel dann wieder in kleinere Täler ab. Sie hatten keine Siedlungen oder Dörfer mehr gesehen und die Hoffnung, hinter der nächsten Bergkuppe würden sie vielleicht den Rauch von Feuern oder die Dächer ein paar Häuser erblicken, schwand zusehens.
Die Sonne ging unter, ohne das sie nur einen kleinen Flecken von Nihilo gesehen hatten. Erst als Noa plötzlich vor Erschöpfung umkippte, machten sie halt. Kaum einer von ihnen hatte noch die Kraft, die Zelte vernünftig aufzubauen, und so beschlossen sie unter freiem Himmel zu schlafen. Nur Noas Vater baute für sie das Zelt auf und legte sie, als sie wieder zu sich gekommen war, hinein. Sein schlechtes Gewissen war ihm deutlich anzumerken, doch Noa bekam kaum noch etwas davon mit. Sie schlief fest, ihr Kopf zu müde, um etwas zu träumen.
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Die dritte Sintflut
Ciencia Ficción2318 n. Chr. Noa ist ein dreizehnjähriges Mädchen, dass in einem kleinen Fischerdorf aufwächst und ihrem Vater beim Fischen hilft. Sie liebt das Meer und die warme, idyllische Landschaft ihrer Heimat. Doch bald sollte sie eine Reise antreten, die ih...