Teil Eins: VERSCHLEPPT

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Der Rucksack lastete schwer auf Noas Schultern. Es war früh als sie aufbrachen, und die Sonne zeigte noch keinen ihrer Strahlen. Das Dorf schlief noch und ebenso Mara, Mijo und Kikon, von denen sie sich eigentlich noch verabschieden wollte, doch als ihr Vater sie geweckt hatte, war keine Zeit mehr gewesen jemanden von ihnen zum Verabschieden zu wecken. Ihre Mutter hatte sie mehrere Minuten lang in den Arm genommen und ihr viele Dinge eingeflüstert, auf welche Noa Acht geben sollte, während sie unterwegs ist. Doch Noa hatte sich fast nichts davon merken können. Sie bemerkte ein komisches Gefühl in ihrem Bauch, als sie Alura einen letzten Blick zuwandte. Die hölzernen Hütten machten in dem Dämmerlicht einen eher trostlosen Eindruck, und Noa wandte sich ab, um den Männern zu folgen. Auf dem Berg meinte sie ein kleines Licht eines brennenden Lagerfeuers zu erkennen und bei dem Gedanken, Lie würde ihr von dort oben zusehen und sie stumm verabschieden, wurde ihr warm ums Herz.
Die kleine Gruppe, bestehend aus ihr und sechs Männer aus dem Dorf, darunter ihr Vater, Kandah und Toon, war schon mehrere Stunden unterwegs, bevor die Sonne endlich aufging. Es war Winter, deshalb würde sie selbst am Mittag nur sehr tief stehen, aber wenigstens konnte Noa den Boden vor sich sehen. Ihre Reisekleidung wärmte sehr gut, ließ sie jedoch auch nicht beim Gehen schwitzen. Mara hatte diese in den letzten Tagen in aller Eile zusammen mit ihrer Mutter hergestellt. Sie war schwerer als Noa es gewohnt war, da sie wegen der Arbeit beim Fischen und zum Tauchen immer nur leichten Stoff trug. Ihre neue Hose war aus Leder, ging ihr bis über die Knie und wurde mit Schnüren so festgemacht, dass sie eng an ihrer Haut anlag, aber weder beim Gehen störte, noch ihre Bewegung einschränkte. Über einem langärmligen Oberteil aus Stoff trug sie einen Überwurf mit einer Kapuze. Sie hatte sich strikt geweigert Schuhe anzuziehen, weshalb diese jetzt an einer Schnur ihres schweren Rucksacks baumelten und ihr bei jedem zweiten Schritt leicht in die Seite stießen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie keine Schuhe getragen. Warum auch? Wenn man mit Schuhen herum lief, dauerte es nie lange, bis man Sand hinein bekam und sich die Füße aufscheuerte. Beim Schwimmen brauchte man eh keine Schuhe, und wenn sie zu Lie den Berg hinauf kletterte, vertraute sie auf das Gefühl ihrer Zehenspitzen, die festen Halt auf dem Stein finden mussten. Sie hatte bemerkt, dass alle anderen aus der Gruppe Schuhe trugen, selbst ihr Vater, der sich normalerweise genauso weigern würde wie sie, denn auch er hatte sein halbes Leben auf dem Meer verbracht. Bereits jetzt begannen Noa die Schultern zu schmerzen. Das Gepäck auf ihrem Rücken war einfach viel zu schwer. Neben etwas Ersatzwäsche trug sie noch eine Decke, eine lederne Trinkflasche, Proviant für mehrere Tage und das schwere Gefäß mit geräuchertem und haltbarem Fisch. Außerdem hatte Mijo ihr zum Abschied am letzten Abend ein Messer geschenkt, dass er selbst gemacht hatte. Es war aus Stein und ihr Cousin hatte ein Heft aus Holz passend geschnitzt. Er musste es mit Mara abgesprochen haben, denn an ihrem Gürtel war an der Seite eine kleine Tasche geschnitzt, in die das Messer perfekt passte.
Den ganzen letzten Tag hatten sie Fische geräuchert und möglichst eng und ohne viel Luft in Tongefäße eingeschlossen. Mit mehreren Schnüren und Gurten war so ein Gefäß jetzt an ihrem Rucksack befestigt und zog mit viel Gewicht daran. Sie hatte ein deutlich kleineres Gefäß bekommen als die Männer, aber trotzdem wünschte sie sich mit jeder Minute mehr, sie könnte es auch nur für einen kleinen Moment von ihren Schultern nehmen.
Gegen Mittag machten sie endlich einen kurzen Halt und Noa wurde schmerzlich bewusst, dass sie sich bereits in einem Gebiet befanden, dass ihr fremd war. Immernoch waren sie in einem dichten und feuchten Wald, jedoch so weit von Alura entfernt wie sie es noch nie gewesen war. Es war den ganzen Morgen nicht viel geredet worden und es schien als würde sich jeder seine Kräfte für das Gehen aufsparen. Für Noas Geschmack befahl Kandah viel zu früh den Aufbruch. Ihr Vater half ihr dabei, ihr schweres Gepäck zu schultern und sie machten sich wieder auf den Weg. Wie auch schon am Morgen führten Kandah und ein Mann namens Mika die Gruppe an. Sie kannte Mika kaum, denn er war nicht oft im Dorf. Manchmal war er mehrere Monate oder sogar Jahre auf Wanderschaft ohne nach Alura zurückzukehren. Niemand kannte sich so gut in der Welt aus wie er, und deshalb vertraute Kandah komplett auf seine Erfahrung, dass er sie sicher nach Nihilo führen würde. Mika schien nicht sehr alt zu sein, trotzdem hatte er einen gewaltigen, dunklen Bart, der an manchen Stellen schon einen leichten grauen Schimmer aufwies, und schwarze Locken bis zu den Schultern, als würde er sie nie schneiden. Seine Kleidung, die der Noas in der Machart ähnelte, war verschlissen und mehrmals geflickt worden. In seiner Hand trug er einen knochenähnlichen Wanderstab aus dunklem Holz, der mit etlichen Kerben übersät war.
Dahinter gingen Alek und Gehir, beide mürrisch und mit einer grimmigen Miene. Alek war einer der Holzfäller im Dorf und hatte auch jetzt seine schwere Axt locker auf der Schulter abgestützt, während er sie zusätzlich zu seinem eigentlichen Gepäck scheinbar mühelos trug. Er hatte helle Haut unter der kräftige Muskeln hervortraten, die zweifellos von seiner harten Arbeit zeugten. Statt fester Wanderkleidung wie Noa und Mika trug er nur ein dünnes Hemd, dass seine muskulösen Schultern freiließ. Seine hellen, blonden Haare waren kurz geschoren, ebenso wie sein Bart, und sollten seine blauen Augen einen einmal anschauennstatt sich in der Umgebung zu verlieren, hatten sie eine beeindruckende, fixierende Kraft. Noa kannte Alek als schweigsamen, aber gutmütigen Mann, der trotz seiner einschüchternden Statur nie aggressiv und wütend aussah. Immer schien er ruhig, sagte kaum ein Wort, und wenn doch, dann in einer tiefen und farblosen Stimme. Der ruhige Holzfäller gehörte zu Mijos besten Freunden. Er hatte ihm das Schnitzen beigebracht und fast so oft wie Noa Lie besuchte, saßen Mijo und Alek gemeinsam schweigend im Wald und bearbeiteten Holz. Ihr Cousin hatte ihr auf ihr fragen hin versichert, dass Alek durchaus einen Sinn für Humor hatte und oft gut gelaunt war, sich nur in größeren Gruppen unwohl fühlen würde.
Gehir hingegen war für sein Temperament und schnell aufbrausende Art bekannt. Er schien immer irgendetwas zu finden, über das er sich beschweren konnte, und besonders an Abenden, bei denen er etwas zu tief ins Glas geschaut hatte, suchte er Streit und prügelte sich nur zu gerne. Auch er war kräftig, jedoch gedrungen und deutlich kleiner als Alek. Gehir arbeitete auf dem Feld und verbrachte die meisten Tage damit, bei sengender Hitze schwere Gerätschaften durch nicht ganz so sandige Flecken Erde zu ziehen, Samen auszustreuen oder diese zu wässern. Seine Haut war braun gebrannt und seine Haare von der Sonne ausgeblichen. Noa mochte ihn nicht wirklich. Er war anfällig für viele Streiche der Kinder aus Alura und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht einen von ihnen verwünschte oder gar mit Schlägen drohte. Er hatte sich auch als Einziger gewehrt und hatte sich geweigert mit auf die Reise zu kommen. Trotz seiner wilden und aufmüpfigen Art hatte er sich Kandahs Anordnung letzten Endes gefügt. Alek und Gehir gehörten im Dorf zu den besten Kämpfern, und dies war der Grund gewesen, warum der Anführer sie mitgenommen hatte. Wie Kandah selbst trug Gehir einen langen Speer, mit dem er, wie Noa wusste, sehr gut umgehen konnte.
Hinter ihnen ging Toon, der gut gelaunte Jäger, der seinen Bogen lässig über die Schulter geworfen hatte. Sollte ihr Proviant knapp werden, würde er dafür sorgen, dass sie genug zu Essen hatten. Er hatte Noa sogar angeboten, ihn auf einer Jagd zu begleiten wenn sie wollte.
„Du bist eine gute Schützin und könntest das Zeug zu einer hervorragenden Jägerin haben!", hatte Toon ihr mit einem strahlenden Lächeln erklärt.
Doch ihr Vater war schnell dazwischen gefunkt und hatte mit kühler Freundlichkeit erwidert: „Noa ist für das Meer und das Fischen bestimmt, nicht für die Jagd. Statt ihre Zeit mit dem Bogen zu verschwenden, könnte sie deutlich sinnvollere Arbeiten erledigen." Toons Lächeln war erloschen und eine schuldbewusste Miene hatte sich auf seinem bubenhaften Gesicht ausgebreitet
„Aber Bogenschießen macht total viel Spaß!" ,war Noa ihm zur Seite gesprungen. Sie wollte weiter lernen, wie man mit Pfeil und Bogen umging und nicht mit den anderen Mädchen Kleider nähen müssen.
Als sie am Abend endlich ihr Lager an einem kleinen Bach aufschlugen taten Noas Füße weh. Unter einer Schicht von Dreck hatten sie eine rote Farbe angenommen. Einige Schnitte hatte sie sich durch Wurzeln oder dorniges Gestrüpp hinzugefügt. Sie wusch den Dreck im kalten Bach ab, um sich zu den anderen um ein kleines Lagerfeuer zu setzten. Sie hatten den Wald nicht verlassen, alles um sie herum schien aus Gestrüpp und Bäumen zu bestehen. Sie brauchte einige Zeit um zu verstehen, was hier so anders war und was ihr fehlte. Es wehte keine frische Meeresbrise und die Feuchtigkeit in der Luft machte das Atem schwerer. Schmerzlich vermisste den so gewohnten Salzgeruch in der Luft. Sie waren nun sehr weit vom Meer entfernt. Die bedrückende Enge des Waldes fühlte sich unangenehm an.
Ihr Vater und die anderen Männer hatten kleine Zweimann-Zelte aus dünnen Leinen aufgebaut, in denen sie schlafen würden. Die Gefäße mit dem Fisch standen nah beieinander in der Nähe der Zelte, sodass immer jemand ein Auge darauf hatte.
Als nach einer kurzen Zeit der Proviant gegessen und frisches Wasser getrunken worden war, machte sich eine zufriedene Müdigkeit bei Allen breit. Es wurden Geschichten erzählt und Witze gemacht, von denen Noa die meisten nicht verstand. Vor allem Gehir, der als Einziger auch einen Weinschlauch dabei hatte, erzählte und lachte am lautesten und es mussten wirklich schmutzige Witze gewesen sein, denn ihr Vater wies ihn nach einer Weile scharf zurecht.
„Deinen Schund muss Noa wirklich nicht hören!" Gehir der größer und kräftiger als ihr Vater war, zuckte nur mit den Schultern und begann eine andere Geschichte zu erzählen.
Noa fand sie ziemlich langweilig und meinte sie schon mehrmals im Dorf gehört zu haben.
„Darf ich mich ein wenig im Wald umschauen?", fragte Noa ihren Vater, als sie mit essen fertig war.
„Nein", sagte er zu ihrer Überraschung. „Es wird bald dunkel und ist zu gefährlich, du kennst dich hier nicht aus."
„Aber ich gehe auch nicht so weit weg!" Doch ihr Vater blieb streng und weigerte sich nur etwas nachzugeben. Er war den ganzen Tag stiller gewesen, als Noa es von ihm gewohnt war. Irgendetwas schien ihn zu bedrücken, doch vor Noa wollte er anscheinend nicht damit herausrücken.
„Ich habe doch gesagt, du darfst nicht gehen!" ,rief ihr Vater, denn sie war unvermittelt aufgestanden.
„Ich muss mal."
„Aber geh nicht zu weit weg", rief er ihr noch hinterher, doch sie tat als habe sie ihn nicht gehört. Schnell war sie im Dickicht verschwunden und die zunehmende Dunkelheit ließ sie für andere unsichtbar werden. Als sie an dem kleinen Bach ankam, der ruhig vor sich hin plätscherte, ging sie in die Hocke und wusch sich mit dem kalten Wasser das Gesicht. Es war zu duster um ihr eigenes Spiegelbild darin zu erkennen. Sie überlegte einen Moment, ob sie wirklich den Wald erkunden sollte, aber sie bezweifelte, irgendetwas Interessantes zu finden. Die ganzen Bäume, die sich nicht von denen unterschieden an denen sie den ganzen Tag vorbei gegangen waren, schienen ziemlich öde. Es gab weit und breit keine Anzeichen eines Hügels oder einer Lichtung, die etwas spannendes für sie bereit halten würde, deshalb drehte sie sich wieder zu dem kleinen Zeltlager um. Sie bemühte sich keine Geräusche zu machen als sie sich den Anderen näherte. Ihre Stimmen drangen bald wieder an ihr Ohr. Sie lauschte eine Weile. Je näher sie kam, desto deutlicher konnte sie verstehen, was sie sagten. Ihr Vater sprach und er tat es nicht im üblichen Lagerfeuer-Plauderton, sondern ernst und energisch.
„Haben wir heute genug Meilen hinter uns gebracht? Ich dachte, dass wir schon längst an Dörfern vorbei kommen müssten..." Noa hatte sich hinter einen Busch versteckt. Sie konnte das Feuer, ihren Vater und neben ihm Alek erkennen, der Rest der Truppe wurde von einem Baumstamm verdeckt. Niemand würde sie hier bemerken und sie würde doch die wichtigen Gespräche mitbekommen, die ihr Vater vor ihr geheim halten wollte.
„Es ist ein dünn-besiedeltes Gebiet"; erklärte Mika mit seiner ruhigen Stimme, die viel besser zum Geschichten erzählen war, als die laute, grölende von Gehir, fand Noa.
„Wir haben heute eine weite Strecke hinter uns gebracht." ,sprach nun Kandah. „Morgen sollten wir Monua erreichen und dann ist es nur noch ein kurzer Weg nach Nihilo."
Eine kurze Pause entstand im Gespräch und Noa bemerkte, wie ihr Vater in ihre Richtung sah und spähte, ob sie bald zurück kommen würde.
„Das sollte ausreichen", stimmte ihr Vater dann zu. „Jedoch weiß ich nicht, ob unser Fisch mit den frischen auf dem Markt in Nihilo mithalten kann."
„Das ist glaube ich kein Problem." ,erwiderte Mika. „Die Bucht von Nihilo ist seit mehreren Jahren leer gefischt. Es wohnen einfach zu viele Menschen dort und sie haben oft eine Knappheit an Nahrungsmitteln."
„Wie oft warst du schon da?", hörte Noa Toons Stimme interessiert fragen.
„Dreimal bisher"
„Und wie ist es dort?"
„Nun, es ist... überwältigend. Es gibt viele Menschen und viele Tiere. Es ist immer laut, auch nachts, und immer brennen dort die Fackeln auf den Straßen. Die bestehen meistens aus Stein, so wie viele der Häuser. Es gibt unzählige Wirtshäuser, Musiker, Schauspielgruppen..."
„Und wie steht es dort mit den Frauen?", wollte Gehir begierig wissen. „Sind sie offen und willig?"
„Psssht!", machte Noas Vater, denn sie tat nun lauter als nötig so, als würde sie gerade erst zum Lager zurück kommen. Gehir verstummte augenblicklich und Mika begann die angespannte Stille aufzulösen, indem er von dem großen Markt erzählte, wo Händler aus aller Welt kommen würden und man praktisch alles kaufen konnte.
Schnell wurde Noa müde und ihre Füße wollten auch nicht aufhören zu schmerzen, sodass sie es sich kurz darauf in dem Zelt, dass sie mit ihrem Vater teilte, so gemütlich wie möglich machte. Der Boden unter ihrer Decke, auf der sie lag, war abgesehen von ein paar Wurzeln aus weicher Erde und sie schlief recht schnell ein.

Die dritte SintflutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt