Am fünften Tag, den sie im Kloster verbrachten, starb Gehir. Er tat es leise und ruhig. So laut und aufbrausend er im Leben gewesen war, so unbemerkt und heimlich ging er aus dem Leben. Noa hätte es nicht einmal mitbekommen, hätte Pako ihr die traurige Nachricht nicht überbracht. Trotz Laos beträchtlichem Wissen über Heilkunde, hatte der älteste Mönch Gehir nicht retten können. Die Nachricht von seinem Tod machte Noa verlegen. Sie hatte sich in den letzten Tagen so auf ihr eigenes unfaires Schicksal fokussiert, dass sie kaum an den im Sterben Liegenden gedacht hatte. Sie fühlte sich scheußlich und in ihrem Egoismus ertappt, schließlich war Gehir in den letzten Wochen so etwas wie ein Gefährte oder sogar ihr Beschützer gewesen. Trotzdem wollte sich kein Gefühl der Trauer in ihr breit machen. Eine gähnende Leere klaffte an dieser Stelle, seit ihre Welt durch hinterhältigen Verrat in tausend Scherben zersprungen war. Es fühlte sich nach Betrug an. Kandah, ihr Vater und ihre ach so tollen Gefährten hatten sie betrogen! Ihr Vater noch am allermeisten. Im Moment, wo sie ihn am meisten gebraucht hätte, hatte er wie ein winselnder Hund den Schwanz eingezogen, statt sich schützend vor sie zu stellen. Schließlich war letzteres doch genau das, was ein Vater für seine einzige Tochter zu tun hatte. Oder lag Noa da falsch? Hatte sie zuvor einfach in einer Scheinwelt gelebt und nur nicht begriffen, dass die Welt schon immer so geregelt war, dass die Stärkeren auf die Schwachen einschlugen, bis diese einknickten und sich fügten? War ihr ganzes Leben in Alura, dass ihr nun wie ein geborgenes Paradies vorkam, ein Witz oder vielleicht ein Spiel gewesen? Ein Spiel, dass sie wenn es keinen Spaß mehr machte pausieren konnte, indem sie sich einfach weinend in die Arme ihrer Eltern begeben hatte? Sie verfluchte sich selbst, das dumme und naive Kind, das jeden Tag das Abenteuer suchte und einfach nicht verstand, dass sie ihren Willen nur solange folgen konnte, wie es den Erwachsenen egal war. Ihre Eltern hatten ihr beigebracht, dass man nett und ehrlich sein musste und dass man Anderen kein Leid zufügen durfte. Mit vier Jahren hatte sie einmal ihren Cousin Mijo geschlagen, als sie zusammen im Sand nach Muscheln gesucht hatten. Mijo hatte flink nach der allergrößten und schönsten Muschel gegriffen, die sie am ganzen Strand gefunden hatten. Sie hatte die blau schimmernde Farbe des Himmels gehabt und genau vor ihren Füßen gelegen, bevor Mijo sie weggeschnappt hatte. Noa war wütend geworden und hatte nach ihr greifen wollen. Wie sie zugeben musste, war es nicht nur ein Versehen gewesen, dass ihre Hand Mijo im Gesicht traf, worauf er die Muschel erschrocken losließ und zu weinen begann. Noa hatte ihm mit ihren Fingernägeln sogar die Wange aufgekratzt und ihr Cousin hatte geblutet. Nur Sekunden später hatte die Reue sie übermannt, was sie ebenfalls zum Heulen gebracht hatte bis die Eltern sie wieder getröstet hatten. In dem ganzen Trubel war die blaue Muscheln im Sand verloren gegangen und sie hatten seitdem auch nie wieder Eine von dieser Schönheit gesehen. Noas Eltern hatten ihr damals eingebläut nicht zu streiten, Anderen nichts wegzunehmen und das es nicht okay war, jemanden hinterrücks zu überrumpeln. Heute war sie keine vier mehr, sie war vierzehn und damit eine junge Frau, und nun begab es sich, dass gerade ihr Vater sie hintergangen hatte. Wie hatte er das tun können? In den letzten Tagen war er im Vergleich zu seinem früheren Ich total verändert. Der gesunde, von der Sonne auf See braungebrannte Mann, der ihr Vater gewesen war, hatte sich in einen alten mageren Greis verwandelt, dessen Haut nun blass und ungesund wirkte. Täglich suchte er Noa auf und wollte mit ihr sprechen. Sie brachte es nicht über sich, ihn wegzuschicken oder anzuschreien, deshalb lies sie es über sich ergehen, wie er mit erstickter, heiserer Stimme von der Heiratszeremonie sprach und ihr erklärte, dass es doch gar nicht so schlimm kommen musste. Keines seiner aufgesetzt ermunternden Worte konnte Noa glauben. Er sprach sie aus, um sich selbst etwas vorzulügen, um sich nicht noch erbärmlicher zu fühlen als er es wohl ohnehin schon tat. In jedem zweiten Satz versuchte er versteckt einzubauen, dass es ihm Leid tat, dass er ja immer nur das Beste für sie gewollt hätte, dass er für das Alles nichts konnte und dass sie ihm doch nichts vorwerfen könne, doch Noa konnte. Er sagte dies auch nie direkt – nein - dazu hatte er jeglichen Schneid, jeglichen Mut, jegliche Selbstachtung verloren. Er sprach verschachtelt, teilweise wirr und dabei wirkten seine Augen trüb und eingefallen, als befände er sich geistig gar nicht unter den Lebenden. Noa sagte während all dieser Zeit nichts, womit sie, wie sie wusste, ihrem Vater noch mehr zu schaffen machte. Aus ihr würde kein Wort dringen, dass ihrem Vater vergeben würde oder nur andeutend könnte, dass sie seine Entscheidung nachvollziehen könnte. Aber sie schrie ihn auch nicht an und gab keine Widerworte. Es schien manchmal, als warte er nur darauf, von ihr mit Worten attackiert zu werden, wohlwissen das er schuldig war und all diese Worte wohl verdient hätte, es wäre wahrlich eine Erlösung für ihn gewesen, denn wenn die Beschuldigungen, die ihre Enttäuschung und ihre Verletztheit zum Ausdruck gebracht hätten einmal ausgesprochen waren, wären sie vorbei gewesen. Doch nun hingen sie in der Luft und spannten sich. Es war diese allgegenwärtige Spannung, diese aufzulösen Noa nicht gewillt war, die ihrem Vater zu schaffen machte und jeden Augenblick an ihm zerrte.
Zum Glück füllten diese unangenehmen Treffen nur wenige Stunden der Tage, sodass Noa genug Zeit hatte, das gesamte Kloster zu erkunden und sich abzulenken. Sie verbrachte viel Zeit alleine oder mit Pako, der immer wenn er nicht arbeiten musste sein Bestes gab, sie zu belustigen oder zu unterhalten. Er war jünger, als es zunächst den Anschein gehabt hatte – gerade einmal siebzehn - und auch wenn er immernoch einige Jahre älter als sie war, war er doch die Person, die hier am Ehesten einem echten Freund nah kam. Pako mit seinen schwarzen Locken die ihm zu Berge standen, war lustig, er neigte zum herumblödeln und manchmal sogar zum Kindisch sein. Er hatte wohl nicht oft die Gesellschaft von etwa Gleichaltrigen und schien jede Sekunde zu genießen, die er dem schnöden Mönchsalltag entkommen konnte. Auch wenn es ihm an Gesellschaft lange gemangelt hatte, so war er doch ein toller Gesprächspartner und Geschichtenerzähler. Er kannte unzählige Bücher, konnte lesen und schreiben, weshalb er viele tolle Sachen erzählen konnte. Noa erzählte hingegen von Alura, vom Meer und von der Reise. Pako hatte seit seiner Kindheit das Kloster nicht verlassen und wollte Alles über Noas bisheriges Leben wissen. Er konnte ebenso gut zuhören wie erzählen und so verbrachten sie unendlich viele Stunden mit Erzählen und Zuhören. Pako hatte ihr seinen Lieblingsort gezeigt. Oben auf der obersten Etage des einzigen Turms des Klosters hatte man eine phänomenale Aussicht auf die Landschaft und den Sonnenuntergang. Früher einmal hatte es eine Glocke gegeben, mit denen die Mönche zum Gebet gerufen worden waren oder vor Gefahr gewarnt wurden, doch seit es nicht mehr viele Mönche gab und die Glocke kaputt und wegen ihres hohen Materialwertes eingeschmolzen war, gab es für die anderen Mönche keinen Grund mehr, die vielen Leitern zu überwinden, um hier heraufzukommen. Es war der einzige Ort im Kloster an dem Noa sich sicher fühlte. Meistens wartete sie hier bereits mehrere Stunden, bevor Pako von Arbeit oder Gebet befreit war. Früher hatte sie nie für eine lange Zeit einfach stumm sitzenbleiben können und hatte sich ständig bewegen müssen, damit ihr nicht langweilig wurde. Doch jetzt genoss sie die Stille und den Blick in die Ferne, bei dem ihre Gedanken so gut abschweifen, sich ordneten und die Verwirrung und das Chaos in ihrem Kopf etwas beseitigen konnten. Es war wie mit einem Fischernetz, das sich in sich selbst verheddert hatte. Mit jedem Gedanken den sie hier fasste, löste sich ein Knoten und es war nur eine Frage der Zeit und der Geduld, bis alle Knoten entwirrt waren und das Fischernetz wieder zu gebrauchen war. Manchmal brachte Pako auch etwas Essbares mit auf den Turm, dann aßen sie zusammen, schmatzten wie sie wollten, rülpsten und pfiffen auf alle Manieren, die ihnen je beigebracht worden waren. Sie lachten und kicherten bei dem Gedanken, was geschehen würde, wenn es einer der Anderen mitbekommen würde, doch niemand störte sie hier oben.
„Es ist so schade, dass du morgen wieder abreist", sagte Pako an diesem Abend schließlich, nachdem sie das von ihm mitgebrachte Essen verputzt hatten.
„Was? Dir hat es keiner gesagt?", fragte er überrascht.
„Nein, das hat niemand. Mein Vater redet nur noch dummes Zeug und von den Anderen spricht keiner mit mir", sagte Noa niedergeschlagen. Pakos mitleidiger Blick war für sie kaum zu ertragen. „Morgen früh werden wir Gehir mit einem Gottesdienst beerdigen, danach hat Kandah vor aufzubrechen.", berichtete er ihr. „Und dann habt ihr es gar nicht mehr weit bis Nihilo." Bedauern schwang in seiner Stimme mit, so wie Noa es nicht von seiner so fröhlichen Art gewohnt war.
„Ich will nicht weg.", sagte Noa trocken. „Und schon gar nicht nach Nihilo." Pako wusste, was sie dort erwarten würde, was er von den Anderen nicht über das Ziel ihrer Reise erzählt bekommen hatte, hatte Noa ihm anvertraut.
Er seufzte. „Weißt du, manchmal denkt man, dass es nur noch schlimmer wird im Leben, aber einem gar nicht auffällt, dass es einen hellen Stern am dunklen Himmel gibt..."
„Du fängst ja an wie mein Vater", erwiderte sie mürrisch, dann äffte sie die heisere Stimme ihres Vater nach: „Dieser Temo ist bestimmt total toll und Heiraten an sich ist ja etwas total Schönes..."
„Ganz so meine ich es nicht", erwiderte Pako ernst. „Mit jeder neuen Situation, so schlimm sie auch ist, öffnet Gott uns unzählige Türen, durch die man nur hindurch schreiten muss, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Das hat mal ein ganz weiser Mann gesagt."
„Und wer?"
Ein spitzbübisches Lächeln stahl sich auf Pakos Gesicht. „Na ich natürlich!"
„Dummkopf!" Spielerisch stieß sie ihn mit dem Ellbogen, lächelte und wurde wieder ernst. „Glaubst du wirklich daran? Ich meine diese ganze Sache, mit diesem Gott, der einen beschützt und der irgendwo im Himmel sitzt und auf uns Acht gibt. Warum lässt er dann zu, dass Dinge passieren die wir nicht wollen? Wie kann Gott dann ein netter Mensch sein?"
„ Ah du spielst auf die Geschichte von Hiob an", antwortete Pako mit einem wissenden Lächeln.
„Wer ist Hiob?"
„Hiob war ein frommer, gottesfürchtiger Mann, der fest an Gott glaubte, aber durch eine Wette mit dem Teufel nimmt Gott ihm alles, was ihm lieb ist. Hiobs Treue zu Gott ist kaum zu brechen, doch in seiner schlimmsten Stunde klagt er über ihn und macht ihm Vorwürfe. Am Ende versöhnt er sich wieder mit ihm und Gott gibt ihm alles, was er je besessen hat tausendmal zurück."
Noa dachte kurz über das Gehörte nach, bevor sie antwortete: „Das ist eine sinnlose Geschichte!"
„Nein! Auf keinen Fall! Sie gehört zu den wichtigsten Überlieferungen für alle Abrama!", rief Pako gespielt entrüstet. „Sie zeigt, dass es sich letzten Endes ausszahlt, Gott zu vertrauen!"
„Aber hätte Gott Hiob nicht alles genommen, hätte er nie seine Hilfe gebraucht!"
„Das ist eben das Schwierigste am Glauben: Unrecht und Elend zu sehen und trotzdem überzeugt zu sein, dass Gott einen Plan hat."
„Und? Bist du überzeugt?", fragte Noa, worauf Pako lange schwieg.
„Gerne würde ich mit tiefster Sicherheit 'Ja' sagen, aber..." Pako schluckte und nutzte die Pause um sich zu Sammeln. „...Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht an Gott, an diesem Ort oder meinem ganzen Leben zweifle. Hier gibt es so viele Regeln, so viele Gebote und Gesetzte, so viel Arbeit und so wenig Spaß und all das soll Gott von uns wollen und verlangen...? Möchte Gott wirklich, dass ich mein gesamtes Leben alleine hier lebe niemals, etwas von der Welt sehe und kaum andere Menschen wie dich kennenlerne?" Seine Stimme wurde mit einem Mal fester. „Doch dann bist du hier und erzählst Geschichten von der Welt da draußen, der richtigen Welt, die ich nicht kenne und dann wird mir klar, dass die Klostermauern mich nicht nur einschließen, sondern auch schützen: Vor Gefahr, Gewalt, vor anderen Menschen, Tieren und vor der Natur. Es ist ein Privileg an diesem sicheren Ort leben zu dürfen. Nirgendwo habe ich die Chance so lange zu leben, da es hier alles gibt, das mich von Krankheiten heilt und wenig gibt, was mich krank machen könnte. Hier ist so viel Wissen, so viele Dinge, die man lernen kann. Dafür aber bekomme ich ein langes Leben ohne viel gelebt zu haben. Vielleicht... Eines Tages werde ich einfach meine Sachen packen und fortgehen, dann habe ich lange genug gelebt, um mit dem Leben anzufangen..."
„Dann komm jetzt mit! Lass uns von hier verschwinden!" Der Einfall war ihr gerade in diesem Moment gekommen. Es war ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Das war das einzig Logische. Sie musste abhauen, weg von Kandah, weg von ihrem Vater und den Anderen! Mit Pako konnte sie es schaffen. Er hatte das Wissen und sie die Erfahrung wie die richtige Welt aussieht! Zu zweit hatten sie eine Chance zu überleben!
„Du meinst, wir sollen alles stehen und liegen lassen und sofort gehen?" Seine Stimme klang skeptisch und trotzdem hatte sie etwas, das in Noa Hoffnung weckte. Der Gedanke schien ihn zu faszinieren und zu erregen.
„Ja! Jetzt sofort!", rief sie und ihre Augen leuchteten vor Aufregung. „Ich entkomme meinem Vater und du diesem Ort hier!"
Auch Pako schien seine Begeisterung kaum zurückhalten können, doch mit Mühe schaffte er es. „Es klingt verlockend! Es erinnert mich an eine Geschichte, die ich vor einiger Zeit in einem alten Buch gelesen habe: Ein junges Paar, das sich entgegen dem Willen ihrer Eltern verliebt hat, entschließt von Zuhause abzuhauen und sich alleine durchzuschlagen, doch auf sich alleine gestellt, bekommen sie unglaubliche Probleme, streiten und trennen sich, um am Ende doch zusammenzufinden. Er findet sie in tödlicher Gefahr wieder und opfert sich für sie. Alleine muss sie zurückkehren nur um festzustellen, dass auch dort ohne sie alles den Bach herunter gegangen ist und sie nirgends mehr zuhause ist."
Noas Erregung verpuffte prompt, als er geendet hatte und sie begriff, dass er nicht mit ihr davonlaufen würde. „Du immer mit deinen blöden Geschichten aus deinen dummen Büchern!", grummelte sie. Sie wusste, dass ihre Reaktion kindisch war und konnte Pako seine Belustigung nicht übel nehmen. „In fast allen Geschichten gibt es einen wahren Kern! Wenn ich fortgehen würde, dann müsste meine Arbeit hier von jemand anderem übernommen werden. Soon, Lao und Tsung sind alt und nicht mehr so fit wie sie einmal waren. Es wird die Zeit kommen, wo sie auf meine Hilfe angewiesen sein werden. Mein Fortgehen würde das Ende Aller bedeuten und sie sind die einzigen Menschen, die immer für mich da waren. Nein, ich kann sie nicht im Stich lassen, sie sind meine Familie."
„Familie...", echote Noa traurig. Sie hatte auch einmal eine besessen. Zu ihrer Familie hatten ihre Eltern, Mijo, Kikon, Tante und Onkel gehört, doch jetzt...
Auf einmal spürte sie Pakos Arm auf der Schulter. Es war ihr alles andere als unangenehm. Langsam ließ Noa sich gegen ihn fallen, bis ihr Kopf auf seiner Schulter lag und ihre langen Haare seine abstehenden Locken berührten. Der Stoff seiner Mönchskutte war kratzig, doch es störte sie nicht im Geringsten. Sie schmiegte sich an ihn und ein wenig unbeholfen legte Pako nun den ganzen Arm um sie. Wenn jemand sie hier oben gesehen hätte, so wären sie ein sehr seltsamer Anblick gewesen. Ein junger Mönch und ein junges Mädchen auf einem Turm in einer stillen Umarmung. Für Pako hätte es mächtig Ärger geben können, schließlich war er ein Mönch und musste tunlichst engen Kontakt mit Mädchen vermeiden. Doch niemand war hier, um ihnen Ärger zu bescheren und wie konnte es einem von oben zuschauenden Gott missfallen, wenn zwei einsame Menschen sich Trost spendeten.
„Suche Gott und finde ihn in deinem Nächsten", murmelte Pako, jedoch so leise, das es kaum zu Noas Ohr herüber reichte, obwohl es doch so nah war.
„Wir werden uns wieder sehen, Noa! Ich glaube fest daran!", raunte er nun klar verständlich in ihr Ohr. Sie hatte die Augen bereits geschlossen und lauschte seinem Herzschlag.
Der Trauergottesdienst für Gehir wurde in der kleinen Kapelle abgehalten. Bei der Erkundung des Klosters hatte Noa diesen kargen Raum nur mit einen kurzen Blick gewürdigt und war sich schnell sicher gewesen, dass dies kein Ort für sie war. Durch dünne Auslassungen an den Steinwänden gelangte nur wenig Licht ins Innere, sodass dieses auf den kalten Steinboden viele verschiedene Muster bildeten. Es gab keine Bänke oder Stühle, sondern nur ein quadratischer Altar vor dem Gehirs Leichnam in ein weißes Tuch gehüllt aufgebahrt war. Die Alura standen davor im sonst leeren Raum und starrten auf ein hölzernes Kreuz an der gegenüberliegenden Wand. An den Seiten des einzigen Objektes in diesem Raum standen jeweils zwei der Mönche – Tsung und Soon rechts und Pako und Lao, der Abt, rechts. Sie hatten die Kapuzen ihrer Kutten tief ins Gesicht gezogen und die Hände zum Gebet gefaltet. Durch Pakos Haarmähne sah er mit der Kapuze aus, als sei sein Kopf doppelt so groß, wie Noa zu ihrer Belustigung auffiel. Doch sie zwang sich ernst zu bleiben, wenigstens das hatte Gehir wohl verdient. Ebenfalls fiel ihr auf, dass Pako bereits größer als Soon und Lao war. Nur Tsung war über einen Kopf größer als er und mindestens doppelt so schwer.
Noa verstand die Zeremonie nicht. Die Mönche beteten, wobei Lao meist anfing und die anderen Mönche sein Gesagtes zusammen wiederholten. Dann sangen sie vierstimmig und in Noas Ohren klangen die Verse, als wären sie Jahrhunderte alt. Die Gesänge waren getragen, andächtig und strahlten eine eigenartige Faszination auf Noa aus. Sie hatte noch nie im Leben etwas Vergleichbares gehört. Auch in Alura hatten sie gesungen, jedoch meist einfache Lieder mit einer einstimmigen Melodie, die jedes Kind nach zweimaligem Hören mitplappern konnte.
Dies hier war etwas Anderes, es war magisch und skurril zugleich. Pako sang anscheinend die Höchste der vier Stimmen und schraubte die Melodie in ungeahnte Höhen, die für Noa unerreichbar wären. Er hatte ihr nicht erzählt, dass er sang und in ihren vielen Tagen im Kloster hatte sie die Mönche auch nie üben gehört. Es faszinierte sie, wie die vier Mönche in perfekter Harmonie und Ruhe rezitierten als würden sie etwas Beschwören. Die Musik machte sie traurig, ließ sie andererseits jedoch tief durchatmen und half ihr, sich zu fokussieren. Die zauberhafte Wirkung der Gesänge ließ jedoch nach, als ihr langsam das stillstehen schwer viel. Seit sie Alura verlassen hatte, war sie so viel gelaufen und hatte ihre Beinmuskulatur trainiert, doch stehen und gehen waren zwei vollständig unterschiedliche und trotzdem gleich anstrengende Dinge. Die Zeremonie wollte kein Ende nehmen und Noa fing an, von einem Bein auf das andere zu trippeln. Nach Ende jedes Liedes hoffte sie, dass es endlich vorbei war und stöhnte innerlich, wenn Lao nach mehreren Minuten unerträglicher Stille wieder zu Beten begann. Irgendwann wanderten ihre Gedanken in die Ferne, weg von diesem Ort und hinein in ihre Gedankenwelt.
Sie schreckte fast hoch, als plötzlich Bewegung in den Raum kam und die Mönche, die mit Beten und Singen aufgehört hatten, den Leichnam aufbahrten und heraustrugen. Der Gottesdienst war vorbei und sie folgte Kandah, Mika, ihrem Vater, Toon und Alek nach draußen. Gehir wurde in das vorbereitete Loch neben dem Gemüsebeet und dem alten Birnbaum herabgelassen. Lao sagte wieder Gebete auf, jedoch kam er schnell zum Ende. Er bedeutete Pako und Soon, mit dem zuschaufeln zu beginnen. Betreten schweigend standen die Alura vor dem Loch in der Erde, das nun Gehirs Grab werden würde. Ein kurzes Aufschluchzen drang an ihr Ohr. Überrascht sah sie zu Alek, dem Tränen über das Gesicht rannen. Noch nie hatte Noa auf seinem markanten Gesicht überhaupt große emotionale Regungen gesehen, doch jetzt weinte der breitgebaute Holzfäller, der alle Anwesenden – und damit selbst den riesigen Tsung – überragte. Noa hatte gar nicht darüber nachgedacht, dass Alek und Gehir eng befreundet waren, auch wenn sie sich in ihrer Art so stark unterschieden hatten. Gehir, stets laut und polternd – ob nun aus schlechter oder besonders guter Laune – und Alek, der stets schwieg und zuhörte, kaum in Gegenwart vieler Menschen lächelte oder seine Gedanken preisgab. Nur in wenigen Momenten ihrer Reise hatte er überhaupt gesprochen und wenn, dann hatten seine Worte immer Gewicht gehabt und eine Entscheidung vorangebracht.
Jetzt wo er in Tränen ausgebrochen war und das salzige Wasser in seinen dünnen Bart floss, wirkte Alek um viele Jahre jünger. Das machte es für Noa einfacher zu verstehen, dass er so auch so gut mit ihrem Cousin Mijo befreundet war. Nun sah sie zu wie Alek vor dem Grab auf ein Knie ging und wie gebannt dabei zusah, wie immer mehr von Gehirs Körper mit Erde bedeckt wurde. Es war Toons Hand, die sich auf seine Schulter legte, um ihm Trost zu spenden. Noa war sich nicht einmal sicher, ob der muskulöse Hühne so eine sanfte Berührung überhaupt spürte, jedenfalls reagierte Alek nicht. Als das Loch mit den letzten Schaufelladungen zu einem Haufen aufgeschütteter Erde wurde, verließen die drei Mönche das Grab, während Pako noch das kleine Kreuz aus zwei zusammengebundenen Stöcken in der Erde befestigte. Auch Noa und die Alura schritten langsam von dannen und ließen Alek in seiner Trauer alleine.

DU LIEST GERADE
Die dritte Sintflut
Ciencia Ficción2318 n. Chr. Noa ist ein dreizehnjähriges Mädchen, dass in einem kleinen Fischerdorf aufwächst und ihrem Vater beim Fischen hilft. Sie liebt das Meer und die warme, idyllische Landschaft ihrer Heimat. Doch bald sollte sie eine Reise antreten, die ih...