Sherlocks Schwäche

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John riss sich von dem Teebeutel los und guckte Sherlock in die Augen. „Und was?“, er beugte sich interessiert vor. Sherlock sprang indessen auf und begann, im Raum auf und ab zu gehen. 

„Die Frage ist doch: Wieso sollte Moriarty dich entführen? Eine von sechs wahrscheinlichen Möglichkeiten wäre, um an mich heranzukommen. Als ich dich herausgeholt habe, hätte er mich dort schon festhalten können, was er nicht tat. Also wollte er, dass wir entkommen. Er bezweckte damit etwas ganz anderes. Er wollte etwas Bestimmtes herausfinden.“

Sherlock legte seine Handflächen aufeinander. John saß auf der Couch; den Tee in beiden Händen haltend, mit seinem schwarz – weiß gestreiften Pullover und in Jeans gekleidet, die Haare verwuschelt, den Detektiv erwartungsvoll und ein wenig gespannt anstarrend. 

Der Detektiv wendete etwas irritiert den Kopf. „Was starrst du denn so, John?“ 

Der Doktor rollte mit den Augen. „Jetzt sag schon, was wollte Moriarty herausfinden?“

John vermutete, dass Sherlock mal wieder mit sich selbst geredet hat, beziehungsweise mit dem imaginären John, der in Sherlocks Gedächtnis auftauchte, wenn John abwesend war, und vielleicht ein wenig angenehmer war (immerhin antwortete er nach dem Belieben des Detektivs). 

Letzterer  ließ sich wieder auf die Couch fallen und stierte geradeaus. „Er wollte....etwas ganz Bestimmtes herausfinden.“

Sherlock drehte langsam den Kopf und sah John an, mit einer solchen Intensität, dass es schon fast unheimlich war. „...meinen....Schwachpunkt.“ Seine Augen flackerten. 

John dämmerte bereits im Unterbewusstsein, was er meinte, aber trotzdem fragte er nach: „Welcher Schwachpunkt?“

Sherlock holte tief Luft und seufzte. „Du.“

Schweigen.

Die Uhr in der Küche tickte laut; das Kaminfeuer flackerte; der Wasserhahn tropfte. John starrte Sherlock an. Sherlock starrte John an. 

Im Kopf des Doktors dröhnte es; es war ein tiefer, dumpfer, aber nicht unangenehmer, sondern eher beruhigender Ton. Sein Gehirn verarbeitete das eben Gesagte, das eine Wort, die beiden Buchstaben, die an sich so banal waren und denen doch so viel Bedeutung geschenkt war. 

Langsam holte er Luft. „...ich...ähm....was?“

Sherlocks Blick schien ihn zu durchdringen, sich in jede seiner Körperfasern hineinzufressen. 

„Ja, du, John. Ich hatte vorher nie Freunde, und mir haben generell nie Menschen wirklich etwas bedeutet....aber du John, du bist einfach der tapferste und klügste und ehrenhafteste Mann, den ich kenne. Ich verdiene es nicht, mit dir zusammenwohnen zu dürfen; jeden Tag bin ich froh, dass wir Freunde sind. Ich..ich bin einfach glücklich, dass du da bist. Wenn du dich über meine Experimente im Kühlschrank und auf dem Tisch aufregst, wenn du an deinem Blog arbeitest, wenn du etwas nicht verstehst und deine Stirn runzelst...“

Sherlock machte eine Pause. 

„Und genau das ist das Problem. Wenn Moriarty dich hat, hat er mich.“

John starrte ihn immer noch ungläubig an. Langsam schien er sich aber wieder zu fassen. 

„Heißt das...ich...wir...du meinst..du betrachtest mich..als...Freund?“

Sherlock nickte. „Wenn du das willst“, er lächelte. „Ich hatte noch nie Freunde vorher." 
John war gerührt. Sherlock bezeichnete ihn als...Freund. Der unglaublich intelligente, exzentrische, launische, unnahbare, manchmal Nerven raubende und doch zumindest in Johns Leben unentbehrliche Sherlock Holmes bezeichnete ihn als Freund. John lächelte ebenfalls. 

Irgendwann, während sie noch Fernsehen geschaut hatten, war Sherlock auf dem Sofa eingeschlafen. Ohne die verhärteten, ernsten Gesichtszüge sah er viel jünger aus, fast wie ein Kind. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, deckte John ihn zu und ging ebenfalls schlafen.


BBC Sherlock - Die Entführung (und danach)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt