Roadkill -I-

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Marcus Wright betrat, noch annähernd ruhig und ordentlich, den Verhörraum. Doch wir wussten beide, das würde sich bald ändern. Dennoch versuchte er jedes Mal aufs Neue vergeblich, die Fassung zu bewahren. Sein dunkles Haar war zu einem glatten Seitenscheitel gegeelt und er hielt wie immer einen Stoß Akten in seinen Händen. Den Anzug, den er trug, erkannte ich vom letzten Mal wieder. Wenn man nun schon zwei Wochen im Gefängnis saß, wusste man eben nichts Besseres zu tun, als sich solche unwichtigen Details zu merken. Sein Mund war eine gerade Linie, als er die Akten auf den Tisch knallte und sich mir gegenüber in den Stuhl fallen ließ. Obwohl vier Wachleute, eine in jeder Ecke des Zimmers, die Stellung hielten, fühlte er sich in meiner Gegenwart sichtlich unwohl. Doch so gern ich auch wollte, ich war gerade nicht dazu in der Lage, ihm auch nur ein Haar zu krümmen, so, wie sie mich gefesselt hatten: Mit einer Fußkette, die beide Füße zusammenhielt, sodass ich nur kleine Schritte tun konnte, war ich an den Eisenstuhl gekettet. Außerdem wurde ich mit feuerfesten Handschuhen und Handketten daran gehindert, ihn in die Luft zu jagen. Wären meine Hände frei, würde ich mich irgendwo leicht verletzten, sodass ein wenig Blut auf den Boden tropfen würde und dies dann mit einem Fingerschnipsen, das Funken erzeugen würde, zum Explodieren bringen. 

Natürlich war mein Blut höchst explosiv. Mehr als Dynamit. Soweit ich wusste, wies nur mein Blut diese Besonderheit auf. Auch, dass ich mit einem Fingerschnipsen Funken erzeugen konnte, schien nicht normal zu sein. Diese Eigenschaften machten mich, neben meiner besten Freundin, zu einem der gefährlichsten und gefürchtetsten Schurken auf der Welt. Was mich, nebenbei bemerkt, mit viel Stolz erfüllte. Marcus versuchte, mich mit seinem durchdringenden Blick, einzuschüchtern und zu durchschauen, was ihm gar nicht gelang und auch nie gelingen würde. Für mich sah es so aus, als hätte er Verstopfung.

 „Ich kann dir wirklich einen guten Arzt empfehlen...", versuchte ich, ein Gespräch anzufangen, wofür wir eigentlich hier waren. Komisch anstarren konnte er mich auch in seiner Freizeit. Wie ein guter Gefängnisdirektor, der bereits allerlei blöde Kommentare von verschiedensten Gefangenen gehört hatte, ging er nicht darauf ein, sondern fragte stattdessen: „Liebe Liz..." „Ich bevorzuge Roadkill"; unterbrach ich ihn schnell. Unbeirrt dadurch, dass ich auf meinen Spitznamen bestand, der bereits in den ganzen USA bekannt und gefürchtet war und den bald auch die ganze Welt kennen würde, fuhr er fort: „ Wir kennen uns nun schon seit zwei Wochen. Wird es da nicht Zeit, dass du mir einige Fragen beantwortest?" Ich zuckte mit den Achseln: „Schieß los." Die Hand der Wache in der rechten Ecke neben der Tür, welche ich das letzte Mal ziemlich geärgert hatte, zuckte leicht zu dessen Pistole, die an einem Holster um seine Hüfte hing. „Doch nicht wortwörtlich", schnauzte ich den Wachmann an. „Immer diese Aggressionen", murmelte ich kopfschüttelnd. Der Wachmann sah mich an, als würde er mich am liebsten erwürgen. Nachvollziehbar. Würde ich doch selber, wenn ich nicht ich wäre.

 Sich von der kleinen Unterbrechung nicht ablenkend lassend, fuhr Marcus fort: „Nun...zu meiner ersten Frage: Wie geht es dir eigentlich damit, dass deine Adoptiveltern gestorben sind? Was fühlst du dabei?" „Sind wir hier beim Psychologen oder bei einem Verhör? Sie haben mir nichts bedeutet. Einfach nur irgendwelche alten Leute." Nicht überrascht über meine Antwort, lehnte er sich entspannt in seinem Stuhl zurück: „Interessiert es dich denn, wie sie gestorben sind?" Ich stieß ein verächtliches Schnauben aus: „Nein...das weiß ich doch schon längst." Was er versuchte, aus mir herauszukitzeln, war die Tatsache, dass ich sie auf dem Gewissen hatte. Ein bisschen Schießpulver hier, ein paar Funken da, schon stand ein Haus samt Einwohner in Flammen. Natürlich, während ich genüsslich im Garten an meinen Karamellkaffee mit einem Schuss Sahne nippte. Neugierig beugte er sich ein wenig über den Tisch, sodass ich einige Falten in seinem Gesicht erkennen konnte. Seine Augen schienen mich schier zu durchbohren: „Und woher weißt du das?" Ein siegessicheres Grinsen huschte kurz über sein Gesicht. Als wäre ich so blöd und würde gestehen. „Zusammen, oder? Sie waren alle beide im Haus, als es abgebrannt ist. Eine defekte Gasleitung heißt es, nicht wahr?" Er runzelte die Stirn: „Gut, anderes Thema." „Du gibst aber schnell auf", bemerkte ich. 

Unter meinen Handschuhen, die mich daran hinderten, Funken zu erzeugen, wurde es bald richtig heiß. Unschuldig erkundigte ich mich in der Runde: „Könnte mir einer der Gentlemen bitte die Handschuhe ausziehen? Es wird bald richtig heiß darunter." Die Wachen versteiften sich nur und gaben keine Antwort. Die erste Regel für die Wachen, wenn es um mich ging: Nie die Handschuhe ausziehen. Gelangweilt beugte ich mich ein wenig über den Tisch, sodass man, wenn ich etwas anderes als diesen hässlichen orangenen Overall angehabt hätte, meinen BH gesehen hätte(wenn ich einen tragen würde). Was mir sonst immer bei zu neugierigen Männern half. „Könnten wir endlich zum Punkt kommen? Mir ist langweilig", bat ich freundlich. Marcus wich ein bisschen zurück. Er war misstrauisch. Langsam zog er einen Zettel aus seinem Aktenstoß. Er war klein und zerknittert. Ich wusste sofort, um welchen es sich handelte. Es war Julias Code. 

Langsam legte er ihn vor mich und strich ihn glatt. „Nachdem Julia und du nach eurer Tat gefasst wurdet, war eure Beute unauffindbar und der einzige Hinweis auf...IRGENDETWAS...ist dieser zerknitterte Zettel mit einem unlösbaren Code darauf, den wir in dem BH deiner Freundin gefunden haben. Jedenfalls glauben wir, es ist ein Code, da es einfach nur eine Reihe aus Buchstaben und Zahlen ist. Und was zum Teufel soll dieser Smiley bedeuten?" Das „nach eurer Tat" kam ihm nur schwer über die Lippen. Gemessen an seiner Lautstärke und den zahlreichen Wutäderchen auf seiner Stirn, hatte er sich nicht mehr ganz unter Kontrolle und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er sie vollkommen verlor. „Hast du etwa in dem BH meiner Freundin herumgefummelt? Das ist sexuelle Belästigung!" Wütend atmete er aus und erhob sich. Dann urplötzlich knallte er mit einer Hand auf den Tisch und brüllte mich an: „Was, verdammt noch mal, bedeutet dieser verfluchte Code?!" Ich lehnte mich nach vorne, um eine kurzen Blick auf den Zettel zu werfen. Dort stand genau das, was wir vor nicht allzu langer Zeit dort notiert hatten:

S10S11LA10SD11D11K10D10H11NO10N10I11C11D10A10J10O10T10MEFO

„Wieso immer wieder die gleichen Zahlen?? Zehn und elf oder eins und null?! Es ist kein binärer Code, das haben wir bereits ausprobiert. Was bedeutet das?", schrie er weiter. Ich blinzelte einmal, bevor ich ihn zurechtwies: „Für den Gefängnisleiter von Alcatraz gehört es sich aber nicht, so herumzuschreien!" Sein linkes Auge zuckte nun noch mehr: „Ich wäre gar nicht Gefängnisleiter von Alcatraz, wenn es wegen eures Einbruchs in Fort Knox nicht wieder eröffnet worden wäre!" Nach einem weiteren kurzem Luftholen, versuchte er, sich zusammenzureißen: „Also was ist das für ein Code? Und was soll dieser Smiley??" Ich wollte dem armen Mann endlich eine Antwort geben: „Das mit dem Smiley versteh ich selber nicht, aber das ist ihr Zettel, deswegen frage ich nicht lange nach." „Gut, dann sag mir, was dieser Code bedeutet." Ich holte Luft, als wollte ich gleich etwas sagen, lächelte ihn dann aber bloß herausfordernd an. 

Daraufhin fegte er, die Zornesröte im Gesicht, seine Akten vom Tisch, schnappte sich den Zettel mit dem Code, der eher ein Papierfetzen war, und verließ wutschnaubend den Raum, nicht ohne die Tür hinter sich zuzuknallen. Immer noch lächelnd wandte ich mich an meine Lieblingswache und bemerkte: „Tja, wie es aussieht, war's das für heute. Einer von euch muss mich jetzt wohl in meine Zelle zurückbringen." Ein schneller Blickaustausch ging von den vier Wachen aus, bis einer leise seufzend nach vorne trat und mich vom Stuhl los machte. Ich ließ das alles über mich ergehen. Zurzeit hatte ich mal keine Lust, groß Probleme zu machen. Die Gänge, durch die sie mich führten, waren dunkel und wenig aufregend. Da hatte ich schon gruseligeres gesehen, immerhin wohnte ich mit Julia zusammen. Schließlich hielten sie vor einer dicken Eisentür. Drei Schlüssel waren nötig, um sie zu öffnen. 

Ungeachtet dessen, was auf dem Boden lag, schubsten sie mich einfach hinein und schlossen schnell die Tür hinter sich. So lag ich nun auf dem Boden. Der Boden war dreckig, doch ich war zu faul, um aufzustehen. Die ganze Zelle bestand nur aus Eisen und Stein, unbrennbar. Nur ihrem Fehler zu schulden, mich anfangs ohne Handschuhe-oder Fesseln einzusperren, war die gesamte Zelle mit Ruß und schwarzen Brandmarken befleckt. Auf dem Boden liegend schloss ich die Augen. Vermutlich wurde Julia gerade verhört. Vermutlich trieb sie sie alle in den Wahnsinn, so wie sie einst von jenem verzehrt wurde. Vermutlich würden wir bald beide auf dem elektrischen Stuhl landen.

Poisonous RoadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt