Bevor wir durch die Tür treten konnten, blickte ich nochmal auf das kleine, tote Mädchen, aus Angst, dass sie sich vielleicht in einen Zombie verwandelt hatte. Ihre blonden Haare wirkte wie ein Heiligenschein um ihr zierliches Gesicht. Die blauen Augen waren groß und schienen nirgendwohin zu sehen.
Doch ich diesem Moment blickte ich in einen Spiegel. Mein ansonsten so heller Haaransatz begann langsam aber sicher, sich grün zu verfärben. Mit zitternden Fingern fasste ich mir in die bereits grünlich gefärbten Haare und würde sie mir am liebsten ausreißen. Meine Wangen waren schon immer rosig gewesen, doch dies verblasste immer mehr, bis ich wahrscheinlich so bleich war wie ein Leichentuch. Als ich mich im Spiegel begutachtete, wollte ich mir das Schlimmste bis zum Schluss aufheben: die Augen. Normalerweise waren sie schön, weil sie eben so gewöhnlich waren. Vor drei Tagen allerdings, nach dem letzten „Experiment", hatten sich meine Augen zu verändern begonnen.
Die Pupillen wurden länglicher und, mir grauste vor dem Wort, schlangenartiger. Tränen schossen mir in meine entstellten Augen. Ich hatte noch nie so viel Angst vor mir selbst gehabt. Verängstigt stieg ich von dem Hocker herunter, dank dessen ich in den Badezimmerspiegel hatte schauen können. Meine Knie waren so weich und schwach, dass sie beinahe unter mir nachgaben. Mein Körper veränderte sich einfach nur, weil ich wuchs, versuchte ich mir einzureden, doch in meinem tiefsten Inneren schrien skeptische Stimmen, dass es die Schuld meiner Eltern war, oder besser gesagt der Drogen, die sie versuchten herzustellen und die mich täglich vergifteten. In Versuchen, das Offensichtliche nicht zu sehen, setzte ich mich auf die kalten Fliesen und legte mein Gesicht in die Hände, während meine teils blonden, teils grünen Haare einen Vorhang darum bildeten. Nach nicht allzu langer Zeit hörte ich jemanden die Treppe heraufstapfen und meinen Namen rufen.
„Julia?", legte Liz mir die Hand auf die Schulter. Noch völlig hypnotisiert von dem toten Menschen, der meinem früheren Ich so ähnlich sah, reagierte ich spät genug, sodass Roadkill merkte, dass etwas nicht stimmte: „Alles okay?" Ich nickte und wandte mich mit einem Lächeln zu ihr: „Klar. Lass uns Tacos essen!" Ohne auf sie zu warten oder auf ihre Reaktion, stieg ich vor ihr die Treppe hoch und rief derweil: „Hey, Romeo, wir kommen!" Der Tisch im Wohnzimmer war schön gedeckt. Romeo hatte sogar eine Tischdecke aufgetrieben.
Natürlich setzte ich mich ans Kopfende. Liz kam nicht viel später nach und setzte sich zu meiner Rechten, immer noch nachdenklich. In diesem Moment kam Romeo mit einem Tablett Tacos durch die Küchentür und stellte sie elegant vor uns auf den Tisch. Erst später fiel mir auf, dass auf seiner Küchenschürze „Kiss the cook" drauf. Von der Schürze aufgefordert, erhob ich mich schnell und drückte unserem Cook einen Kuss auf die Wange. Dieser schien sich geschmeichelt zu fühlen und ich musste lächeln. Romeo setzte sich neben mich und ich hatte so großen Hunger, dass ich mir einen heißen Taco mit der bloßen Hand vom Tablett schnappte und herzhaft hineinbiss.
Nachdem Liz wieder bei uns zu sein schien, holte auch sie sich einen Taco und begann zu sprechen: „Deine Arbeiter werden uns doch nicht verraten, oder?" „Sie würden es nicht wagen", versicherte uns der Mexikaner. Liz nickte zufrieden, doch ich war eher enttäuscht. Es wäre um einiges aufregender, wenn sie unsere Flucht durch eine lose Zunge erschweren würden. „Was habt ihr jetzt eigentlich vor?", erkundigte er sich. Romeo stand in unserer Freundesliste weit genug oben, dass er sich so eine Frage erlauben konnte.
„Wir holen uns unser Geld zurück. Stück für Stück", grinste ich und nahm mir bereits den zweiten Taco. Romeo hatte zwar nicht viele Talente, aber Tacos machen konnte er. „Wenn wir schon dabei sind...wo hast du unser Geld?", hakte meine Freundin nach. Der eigentliche Grund, weshalb wir hier waren. „Dort, wo ich euer anderes Zeug habe, unter den Dielenbrettern. Ich gebe es euch nach dem Essen, wenn es euch recht ist?" Wir nickten einstimmig. Kein Geld der Welt würde mich jetzt von diesem Tisch wegholen, nicht solange es noch Tacos gab.
Gierig griff ich nach dem dritten: „Könntest du uns für morgen ein Lunchpaket mit einigen Tacos bereitstellen?" „Aber natürlich. Es freut mich, wenn mein Essen auch einmal geschätzt wird und nicht nur mein Alkohol." „Apropos Alkohol...hast du heute Abend Zeit oder musst du arbeiten? Ansonsten könnten wir einen drauf machen. Julia hat auch ein wenig Kokain besorgt." „Nein, ich muss nicht arbeiten. Außerdem hätte ich noch einige Flaschen in meinem Keller, die zu vernichten wären." Während der lustige Mann uns angrinste, freute ich mich bereits auf den Kater am nächsten Morgen.
Ich wollt mir gerade noch einen Taco stibitzen, als ich merkte, dass es keinen mehr gab und mich beschlich der leise Verdacht, dass Liz alle aufgegessen hatte. Vorwurfsvoll warf ich ihr einen Blick zu, doch sie deutete nur auf mich. „Wenn ihr fertig habt, könnte ich euch das Geld geben!" Das Wort „Geld" betonte er besonders. Romeo und Liz tauschten einen wissenden Blick aus. Das Geschirr auf dem Tisch stehen lassend, folgten wir Romeo, ein weiters Mal, die Treppe runter. Statt den Raum mit der toten Veronica zu betreten, wandte er sich an die nächste Tür, durch die Poltern ertönte.
Vorsichtig öffnete er die Tür, sodass sich uns ein perfekter Blick auf einen Tasmanischen Teufel und einem Inlandtaipan inmitten zahlreicher toter Fledermäuse bot. Einige der Fledermäuse flatterten noch panisch durch den Raum. „Oh nein!", rief Romeo aus und warf sich auf die Knie, um zu sehen, ob es noch Hoffnung für die auf dem Boden liegenden Fledermäuse gab. Ich konnte jedoch nicht den Blick vom tasmanischen Teufel und der Schlange abwenden, da sie nicht nur irgendwelche Tiere waren, sondern unsere! „Shaggy!", rief ich aus und die blau-schwarze Schlange schlängelte sich auf mich zu. Normalerweise war sie schneller, doch die Fledermaus, die sie gerade verdaute und die sich haargenau unter ihrem langen Körper abzeichnete, verlangsamte sie.
Als sie bei meinen Füßen angekommen war, bückte ich mich und hob sie zärtlich hoch. In ihrem Verdauungsprozess war sie genauso, wie ich während meiner Periode: hilflos und gereizt. Ihre Haut war schuppig, schimmerte und zugleich so weich, dass ich am liebsten mein Gesicht darin vergraben würde. Als mir einfiel, dass ich eine Person war, die eigentlich alles machte, was ihr so durch den Kopf ging, legte ich mein Gesicht sanft auf Shaggys Körper. Dieser rieb seinen Kopf liebevoll an meinen und diesem Moment war ich wieder ganz. Egal wie gereizt er war, er würde es niemals an mir auslassen.
Nur im Augenwinkel nahm ich wahr, wie Liz Teddy begrüßte, diesen auch hochhob und er ihr Gesicht ableckte. Da seine Zunge noch blutig war, hinterließ er rote Spuren in ihrem Gesicht. Während wir uns mit unseren Tieren beschäftigten, kümmerte Romeo sich um die Fledermäuse, die nicht vollkommen zerfetzt waren. „Romeo, wieso hältst du hier eigentlich Fledermäuse?" Mit erstickter Stimme antwortete er: „Ich halte sie, weil Fledermäuse die Agave bestäuben. Die Pflanze, die ich zur Herstellung von Tequila brauche." „Und du dachtest, es wäre eine gute Idee, unsere Tiere mit den deinen einzusperren?" „Eigentlich waren sie in einem Käfig und einem Terrarium." Mit zitterndem Finger deutete er auf das zerbrochene Terrarium und den geknackten Käfig in der Ecke. Die restlichen Fledermäuse schwirrten uns immer noch wie wild um die Ohren.
Nach einer Weile gab der gute Mann aber auf, sich um die halbtoten Viecher zu kümmern und bedachte uns mit einem merkwürdigen Blick. Diese Blicke war ich inzwischen gewohnt. „Hast du keine Angst, dass sie dich beißt? Immerhin ist er die giftigste Schlange der Welt!" Entrüstet starrte ich ihn an, während Shaggy sich um meinen Hals legte und seinen Kopf in meine Schlüsselbeinkuhle schmiegte: „Shaggys Bisse sind liebevoll gemeint. Außerdem können sie mir sowieso nichts anhaben." „Shaggy wäre die giftigste Schlange, wenn es Julia nicht gäbe", murmelte Liz im Hintergrund. Nachdem er mich kurz mit eindeutiger Furcht in den Augen beobachtet hatte, bückte er sich erneut und hob eine Diele aus dem Boden. Sein Arm verschwand und tauchte kurz darauf wieder mit einer Tasche in der Hand auf.
Das Geld.
Da Liz immer noch Teddy in den Armen hielt, nahm ich die Tasche entgegen.
Zehn Millionen. Fehlten nur noch die restlichen hundertsechsundsechzig Millionen US-Dollar.
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Poisonous Road
Science FictionRoadkill und die Viper: zwei Namen, die in den USA berühmt-berüchtigt sind. Es heißt, sie wären verrückt und gefährlich, sie könnten nicht bluten, fühlen keinen Schmerz und essen Menschenherzen. Wenn man ihre wahren Namen nennt, ist man schon so...