ARC 3 - ENTRY 17

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Normalerweise würde ich mir über meinen jetzigen Zustand und die Dinge, die ich sah, Sorgen machen, aber da ich wahrscheinlich gerade am Ausbluten war, nahm ich es einfach hin. Vor meinem inneren Auge erschien ein Bild; eine Erinnerung. Ein von mir fast komplett verdrängter Tag wurde erneut zu meiner Realität.

Ich befand mich in dem Kentriki von vor dreißig Jahren und es war ziemlich kühl, da der Herbst dabei war, dem Winter seinen Platz abzutreten. Zwar lag noch kein Schnee, aber der Wind war eisig und peitschte heulend durch die Straßen.

Ich war vier Jahre alt, hatte weder ein Zuhause, noch sich um mich sorgende Eltern; nicht mehr. Der Bürgerkrieg im Osten, meiner Heimat, hatte mir alles genommen und jetzt war ich hier, wenn auch wahrscheinlich nicht für sehr lange.

Für mich ergab der Grund des Kriegs keinen Sinn. Die östliche Regierung strebte eine Modernisierung am Beispiel Kentriki an, doch die stolzen Anhänger der samurai waren dagegen. Es entbrannte ein Konflikt, der viele ihr Leben kostete, einschließlich meiner Eltern und es schien so, als würde sich die Modernisierung durchsetzen. Ein Kompromiss, in welchem die samurai erhalten bleiben würden, hätte nicht so viele Opfer gekostet.

Die Zentrale Regierung hatte für uns Flüchtlinge ein isoliertes Ghetto-Viertel errichtet, ohne jegliche Sanitäranlagen oder Nahrung; sauberes Wasser war goldwert. Hier versuchte ich zu überleben und tat alles, was dafür nötig war. Daher kam auch mein Spitzname "Der Weiße Wolf".

Heute war es besonders kühl, weil die wärmende Sonne hinter einer grauen, trostlosen Wolkendecke verborgen lag und alles was ich an Kleidung besaß lediglich ein jimbei *war. Im Osten war es deutlich wärmer zu der Jahreszeit. Schuhe trug ich nicht; wahrscheinlich war mir deswegen unter anderem auch so kalt.

Ansonsten zählte das Gewehr meines Vaters noch zu meinem Besitz, das aber noch zu groß und zu schwer für mich war, weshalb ich es bei meinem Schlafplatz versteckte. Ich wusste außerdem noch nichts damit anzufangen.

Seit zwei Tagen hatte ich nichts mehr gegessen und es fühlte sich so an, als würde ein Wolf von innen meinen Magen beißen und ihn mit seinen Krallen bearbeiten. Das war der Grund, warum ich unterwegs war.

Das Ghetto wurde an dessen Grenzen von Soldaten bewacht, die sofort schossen, wenn sie jemanden sahen, der raus wollte. Innerhalb gab es kaum etwas zu essen, aber man suchte trotzdem erst hier, bevor man sein Leben riskierte. Draußen wurde es auch nicht einfacher, denn dort musste man stehlen und durfte nicht erwischt werden. Allerdings konnte man auch nicht einfach ohne weiteres draußen bleiben, da nachts Patrouillen bestehend aus Soldaten und Kampfhunden durch die Straßen streiften.

Schon mehr als zwei Monate war ich hier inmitten dieser hässlichen, heruntergekommen Häuser, den armen, frierenden Menschen und den von Leichen gesäumten Straßen. Der Geruch von Tod und Elend lag in der Luft und manchmal waren die Schreie hungriger Säuglinge zu hören. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine Krankheit ausbrechen und alle töten würde. Anders, als die anderen Kinder meines Alters, von denen es hier ziemlich viele gab, war ich immer allein unterwegs und musste mich nicht auf andere verlassen.

Als ich suchend um eine Ecke in eine Gasse bog, bemerkte ich etwas weiter zwischen den Häusern eine Gruppe aus drei Jungs, die auf eine vierte Person eintraten. Eigentlich hielt ich mich immer aus solchen Angelegenheiten raus, sofern sie mich nichts angingen, dennoch war mein Interesse geweckt und ich schlich unbemerkt näher. Vielleicht hatten sie Essen, das ich ihnen abjagen konnte. Irgendwann war ich so nah, dass ich zwischen den dumpfen Geräuschen der Tritte ein schmerzerfülltes Wimmern heraushören konnte - das eines Mädchens.

The Story of a White Wolf |✓|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt