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Harry Potter lehnte seinen hämmernden Kopf gegen die kühle Fensterscheibe. Er saß - wie schon so viele Male - im Hogwarts- Express. In dem Abteil saßen außer ihm auch noch Hermine Granger, Ron Weasley und dessen jüngere Schwester Ginny Weasley, Harry's feste Freundin. Jeder Einzelne von ihnen beobachtete Harry besorgt. Er hatte auf der ganzen Fahrt kaum ein Wort gesagt und stattdessen nur den von Schmerzen geplagten Kopf gegen die Scheibe gepresst und die Augen fest geschlossen. Seit er an diesem Morgen aufgewacht war, hatte er diese furchtbaren Kopfschmerzen gehabt, die einfach nicht gehen wollten. Ginnys Geplapper und Hermines ständige Fragen, ob sie etwas für ihn tun könne, machten das ganze auch nicht gerade besser. Ginny redete nahezu ununterbrochen auf Harry ein; sie fragte ihn, ob er sich auch so freute, zurückzufahren wie sie und erzählte ihm, was sie dieses Jahr alles vorhatte (sie wollte im nächsten Jahr Quidditchmanschaftskapitänin von Gryffindor werden und das Team zu neuen Hochleistungen bringen - darauf wollte sie sich in diesem Jahr unbedingt vorbereiten).
»Ich will später unbedingt professionelle Quidditchspielerin werden! Stellt euch das mal vor: ihr feuert mich vielleicht ein Mal bei der Weltmeisterschaft an!«, sagte sie aufgeregt und packte Harrys Arm.
Dieser jedoch schüttelte ihre langen Finger, dessen Nägel sich schmerzhaft in seine Haut gruben, ab und stand auf.
»Ich brauch mal frische Luft«, murmelte er den anderen als Entschuldigung zu, bevor er die Abteiltür aufschob und den schmalen Gang des Zuges langspazierte.
Die meisten der kleinen Abteile, an denen Harry vorbeikam, waren gefüllt mit älteren Schülern, die Harry vom flüchtigen Sehen in Hogwarts kannte. Viele Erstklässler unterbrachen ihr aufgeregtes Gerede über die Schule, als Harry an ihren Türen vorbeiging, und warfen ihm ehrfurchtsvolle Blicke zu. Natürlich kannten sie die Geschichte der lebenden Legende Harry Potter. Der Junge, der lebte und der Lord Voldemort das Ende seiner Schreckensherrschaft erklärt hatte. Harry versuchte die Blicke und das Fingerzeigen so gut es ging zu ignorieren und widmete sich ganz der Aufgabe, diese verdammte Kopfschmerzen loszuwerden - leichter gesagt als getan. Nachdem er den Gang zehn Mal auf und ab gegangen war (immer hatte er kurz vor seinem eigenen Abteil wieder umgedreht), wurden die Schmerzen nicht besser, sondern eher noch schlimmer. Beim Aufwachen war es nur ein leichtes Drücken in der Stirngegend gewesen, doch inzwischen hatte es sich zu einem ständigen Pochen im gesamten Kopf ausgeweitet.
Hauptsache, ich werde noch direkt am Anfang vom Schuljahr krank, dachte er sich. Durchgehend hatte er auf den mit Teppich ausgelegten Boden gestarrt, um den neugierigen Blicken zu entgehen. Jetzt hob er den Kopf, ohne recht zu wissen, was ihn dazu gebracht hatte, und schaute geradewegs in die sturmgrauen Augen seines alten Erzfeindes Draco Malfoy. Malfoy stand mit verschränkten Armen vor ihm und starrte ihn abschätzig an.
»Was machst du ganz alleine hier, Potter? Wo hast du Weasley und die Granger gelassen?«, fragte er mit seiner gewohnt hochnäsigen Stimme.
»Geh mir aus dem Weg, Malfoy«, sagte Harry müde. Er hatte keine Lust sich mit Malfoy zu streiten.
»Warum so eilig, Potter?«
Malfoy hatte offenbar große Lust sich mit Harry zu streiten und war, wie es schien, auch nicht gewillt ihn so einfach gehen zu lassen.
»Ach, mach doch, was du willst, Malfoy«, zischte Harry und machte auf dem Absatz kehrt. Er konnte Malfoys Blick im Nacken spüren, doch das störte ihn nicht weiter. Allerdings hatte Harry keine Lust, zurück zu seinen Freunden zu gehen. Umkehren war auch keine Option, weil dort Malfoy auf ihn wartete. Er schaute zur Seite, in das Abteil neben ihm, und erkannte Seamus Finnigan, Dean Thomas und Neville Longbottom. Alle drei lächelte ihm freundlich zu, als er die Tür aufschob und fragte, ob er sich setzen dürfe.
»Natürlich, Harry.« Neville klopfte neben sich auf die gepolsterte Sitzbank.
»Wie geht's dir, Harry?«, fragte Seamus ihn. Ein Hauch von Besorgnis lag in seiner Stimme, doch wenigstens lächelte er und sah ihn nicht so an, als würde Harry jeden Moment tot umfallen.
»Ich hab ziemliche Kopfschmerzen, Jungs. Könnt ihr mich einfach ignorieren, wenn's euch nichts ausmacht?«, bat Harry sie und drückte die flache Hand gegen die Stirn.
»Soll ich dir vielleicht helfen, Harry?«, fragte Neville und hatte schon seinen Zauberstab gezückt.
»Nichts für ungut, Neville, aber nicht mal Hermine konnte mir mit Magie helfen. Ich schätze, ich muss da einfach durch.«
Neville nickte halb enttäuscht und halb verständnisvoll und steckte den Zauberstab zurück in eine der Taschen seines Zauberumhangs.
Dean Thomas versuchte den Anderen wie fast jedes Jahr den Sinn an Fußball zu erklären und warum es so ein toller Sport sei. Harry hörte nur mir halbem Ohr hin und war froh, dass sie seinem Wunsch nachkamen und ihn den Rest der Fahrt fast vollständig ausblendeten. Harry bemerkte, wie nahe Seamus bei Dean saß und als Seamus dann den Kopf an Deans Schulter schmiegte und nach seiner Hand griff, wunderte es Harry kaum. Er hatte schon seit einigen Jahren so eine Vermutung, dass zwischen den beiden was lief und er freute sich für seine Freunde, wenn sie es nun offiziell gemacht hatten. Gleichzeitig versetzte es ihm aber auch einen kleinen Stich - alle um ihn herum führten offenbar eine Beziehung voller Liebe und Gekuschel, während seine eigene Beziehung mit Ginny derzeit auf Messers Schneide stand.
Harry wusste, dass Ginny ihn aufrichtig liebte und er hatte dasselbe ja auch anfangs für sie empfunden, aber seine Gefühle hatten sich nicht verstärkt, ganz im Gegenteil sogar; Ginny ging ihm inzwischen schon beinahe auf die Nerven. Ständig wollte sie nur über den Krieg sprechen und wollte einfach nicht kapieren, dass Harry genau dieses Thema eigentlich für den Rest seines Lebens hatte abschließen und hinter sich lassen wollen. Zu viele Menschen waren gestorben, zu viele hatten ihre Geliebten verloren - das war wirklich kein Thema über das man gerne sprechen wollte. Ginny dachte offenbar, es würde ihnen beiden bei der Traumabewältigung helfen oder so etwas.
Müde schloss Harry seine Augen und dachte an sein warmes, gemütliches Bett in Hogwarts.

Er musste eingenickt sein, denn als er das nächste Mal die Lider öffnete, rüttelte Neville ihn sanft am Arm wach.
»Ähm... hey, Harry. Wir sind da«, sagte Neville und wartete auf irgendeine Reaktion von Harrys Seite.
Dieser stand auf und streckte seinen schmerzenden Körper. Er hatte in einer ziemlich unangenehmen Schlafposition gesessen, sodass es nicht besonders erholsam war, aber zumindest waren seine Kopfschmerzen ein Stück zurückgegangen. Vor dem Fenster war es stockdunkel und Regentropfen klatschten leise gegen die Scheibe.
»Bis später«, rief Harry den anderen hastig über die Schulter zu und ging schnellen Schrittes in das Abteil, wo er mit Ginny, Hermine und Ron gesessen hatte.
Keiner von ihnen war noch da, aber seinen Rucksack hatten sie auf der Sitzbank stehen lassen. Diesen warf er sich nun über die Schulter und ging schnell aus dem Zug hinaus. Kühle Luft und leichter Regen schlugen ihm ins Gesicht, sobald er aus dem Zug stieg. Der Regen, der in den letzten Wochen - für Großbritannien unüblich - ausgeblieben war, erfüllte die Luft mit viel Feuchtigkeit. Bald waren seine Klamotten feucht und durch die Brille konnte er vor lauter kleinen Regentropfen kaum noch etwas sehen. Er setzte die Brille ab und wischte sie an seinem T- Shirt trocken. Als er sie wieder aufsetzte und geradeaus guckte, wich er erschrocken einen Schritt zurück. Vor ihm stand ein Thestral, ein magisches Wesen, das man nur sehen konnte, wenn man schon einmal den Tod gesehen hatte. Auf den zweiten Blick waren sie zwar sehr interessante und auf ihre eigene Weise schöne Wesen, aber wenn sie plötzlich direkt vor der Nase standen, konnte man sich trotzdem leicht erschrecken. Hinter dem Thestral stand eine Kutsche, die das Wesen zu dem Schloss zog. Harry streichelte seine Nüstern, bevor er in die Kutsche stieg. Mit einem Fuß auf der kleinen Leiter hielt er inne. In der Kutsche saßen schon zwei Personen. Beide hatten ausgesprochen blondes Haar. Die eine Person war Luna Lovegood, eine gute Freundin von Harry, und die andere Gestalt, die so viel Abstand wie möglich von dem Mädchen hielt, war Draco Malfoy. Harry überlegte, ob er wieder aussteigen und auf die nächste Kutsche warten sollte, doch sein Kopf fing wieder an unangenehm zu pochen. Mit einem leisen Seufzer ließ er sich auf die schmale Bank gegenüber von den beiden nieder. Luna lächelte Harry auf eine so vertraute, ruhige und freundliche Weise an, dass Harry ganz warm ums Herz wurde. Als Harry zu Malfoy sah, starrte der nur finster zurück, doch Harry war zu müde, um in diesem Moment Hass für ihn zu empfinden. Stattdessen verdrehte er einfach die Augen und konzentrierte sich dann auf die Aussicht aus dem kleinen Fenster der Kutsche. Nicht mehr lange und sie konnten das riesige Schloss erkennen. Nicht mehr lange und er war wieder zu Hause.

Drarry // I won't let goWo Geschichten leben. Entdecke jetzt