Draco waren die dunklen Schatten unter Harrys Augen schon im Zug aufgefallen, als er vor ihm gestanden hatte, doch jetzt, wo er ihm in dem engen Raum der Kutsche so dicht gegenüber saß, konnte er erst richtig sehen, wie müde und ausgelaugt Harry wirkte. Seine schwarzen Haare waren noch unordentlicher als sonst und die Brille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht. Mit einer genervten Geste schob er sie zurück und presste sich die Hand gegen die Stirn. Er sah weder Draco noch Luna an, sondern starrte nur durchs Fenster.
»Geht es dir nicht gut, Harry?«, fragte Luna.
Harry zuckte zusammen, als ob Luna ihn gerade aus einem Traum oder einem tiefen Gedanken gerissen hätte.
»Nein, geht schon«, antwortete er ihr durch zusammengebissene Zähne und versuchte ein Lächeln zustande zu bringen.
»Du hast Schmerzen, nicht wahr?« Luna sprach ganz ruhig. Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
Harry nickte bloß als Antwort und wandte sich dann wieder der Welt außerhalb der Kutsche zu. Luna stellte keine weiteren Fragen und senkte Blick in ihre Zeitung, die sie verkehrt herum laß.
Draco merkte erst, dass er ihn angestarrt hatte, als Harry das Gesicht zu ihm drehte und ihn entnervt ansah.
»Was guckst du so, Malfoy?«, fragte Harry ihn.
Der blonde Junge wandte den Blick ab und zuckte die Achseln. Harry erinnerte ihn auf Besorgnis erregende Weise an sich selbst im sechsten Schuljahr. Das ganze Jahr über hatte er denselben Blick aufgesetzt wie Harry; er hatte Löcher in die Gegend gestarrt, obwohl er nichts gesehen hatte. Ich mach mir doch keine Sorgen um Potter!, dachte Draco und schüttelte den Kopf, so als wolle er diesen absolut absurden Gedanken abschütteln.
Die restliche Fahrt über sagte keiner von ihnen ein Wort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Als Harry das stattliche Schulschloss näher kommen sah, wanderten seine Gedanken zu Ginny. Er würde sich neben sie an den Gryffindortisch setzen, sie würde seine Hand nehmen und alles würde so bleiben wie es war. Etwas störte Harry an diesem Gedankengang. Vielleicht war es die Tatsache, dass er nicht wollte, dass alles blieb wie es war. Aber konnte er mit Ginny Schluss machen? Sie war die Schwester seines besten Freundes. Ron war so glücklich gewesen, als Harry und Ginny es endlich offiziell gemacht hatten. Harry war sich sogar ziemlich sicher, dass er bereits ihre Hochzeit plante. Würde es seine Freundschaft zu Ron zerstören, wenn er sich von Ginny trennte? Aber Ron würde es sicher nicht gutheißen, wenn Ginny sich ihr ganzes Leben wie blöd Hoffnungen machte, obwohl Harry sie gar nicht richtig liebte. Ja, ganz sicher. Ron würde ihn dafür sicher nicht hassen - hoffentlich.Es geschah genau so, wie Harry es sich vorgestellt hatte. Sobald sie aus der Kutsche gestiegen waren und er in die große Halle ging (Harry war extra langsam gegangen, sodass Luna und Draco bereits an ihren Tischen saßen), sah er Ginny, die ihm wie immer mit großen, liebevollen Augen entgegen schaute. Harry setzte sich neben sie. Ihm Gegenüber saßen Hermine und Ron. Hermine sah ihn die ganze Zeit über noch besorgter an als im Zug, während Ron einfach nur seine Hühnchenkeulen verschlang und Ginny (wie er vorausgesagt hatte) seine Hand hielt. Harry bekam von dem Festmahl kaum einen Bissen hinunter, was Hermines Sorge nur noch mehr anstachelte.
»Hörst du jetzt mal auf mich so anzustarren?«, zischte Harry ihr gereizt zu, als sie aufstanden.
McGonagall, die inzwischen Schulleiterin von Hogwarts war, hatte eine inspirierende und freundliche Rede gehalten, die aber lange nicht Dumbledore's Reden das Wasser reichen konnte, der Sprechende Hut hatte ein neukomponiertes Lied zum Besten gegeben und die Erstklässler waren ihren Häusern zugeteilt worden.
Hermine, die zur Schulsprecherin ernannt worden war, und Ron blieben noch kurz sitzen und Harry, der nach einem Vorwand suchte, um nicht mit Ginny allein in den Gemeinschaftsraum gehen zu müssen, gab vor, noch auf ein Wort zu Professor McGonagall zu gehen.
»Okay. Ich warte hier«, meinte Ginny und strahlte Harry an.
»Nein, Ginny. Geh doch schon vor. Es könnte vielleicht länger dauern.« Harry, dessen Kopf nun wieder stark zu pochen anfing, drückte sich eine Hand gegen die Stirn und rang sich ein Lächeln ab. Er war sich nicht sicher, ob es so funktioniert hatte, wie er wollte, aber zumindest zog Ginny - nicht ohne ihm einen Kuss zu geben - von dannen.
Unter den Blicken von Ron und Hermine ging Harry zu der langen Lehrertafel, die vollbesetzt mit neuen Gesichtern war. Es verpasste Harry einen Stich. Wie gern hätte er Dumbledore's aufmunterndes Zwinkern oder sogar Snapes finsteren Blick gesehen. Wie sehr wünschte er sich, dass angegraute Haar Lupins zu sehen, der ihm ein strahlendes Lächeln schenkte. Er seufzte und stellte sich vor Professor McGonagall, die in einem Gespräch mit den Professoren Flitwick und Hagrid steckte.
Harry musste sich leicht räuspern, um die Diskussion zu unterbrechen. Die drei Augenpaare schenkten ihre volle Aufmerksamkeit nun Harry, der mit schmerzverzerrtem Gesicht vor ihnen stand.
»Hallo, Potter, es ist schön Sie zu sehen.« McGonagall lächelte ihn an. »Aber sagen Sie, geht es Ihnen nicht gut, Potter?«
»Es ist auch sehr schön Sie zu sehen, Professor«, sagte Harry und ließ den Blick über die anderen Gesichter schweifen. »Es ist schön Sie alle wieder zu sehen. Aber ehrlich gesagt, nein, Professor, es geht mir nicht besonders gut. Ich habe diese Kopfschmerzen...« Weiter kam er nicht.
»Natürlich, Potter, gehen Sie zu Madam Pomfrey. Sie wird Ihnen sicher weiterhelfen können.« Nun sah auch McGonagall Harry besorgt an.
Schnell winkte er Hagrid lächelnd zu, bevor er sich umdrehte und schnurstracks an Ron und Hermine vorbei zu Madam Pomfrey marschierte.
»Sie schon wieder, Potter?«, fragte die Schulkrankenschwester zur Begrüßung, als Harry eine der großen Flügeltüren aufstieß.
»Professor McGonagall hat gesagt, ich solle lieber mal zu Ihnen gehen. Ich habe ziemlich starke Kopfschmerzen.«
Das reichte Madam Pomfrey schon. Sie wies Harry an, sich in eines der Betten zu legen, stellte ihm Fragen (wie lange haben Sie die Kopfschmerzen schon? Wo genau treten die Schmerzen auf?) und gab ihm dann eine türkis-blaue Flüssigkeit in einem Glaß. Das Gebräu sah hübsch aus, so schlimm konnte es also gar nicht schmecken.
Das man sich nicht auf das Äußere verlassen sollte, wusste Harry, seit er bei der Quidditchweltmeisterschaft in seinem vierten Schuljahr zum ersten Mal die Veela - wunderschöne Frauen, die jedem Mann den Kopf verdreht und sich schließlich als hässliche, bösartige Wesen entpuppt hatten - gesehen hatte, und spätestens jetzt wurde es ihm ins Hirn eingebrannt. Die Flüssigkeit sah vielleicht hübsch aus, aber als Harry sie schluckte, fühlte es sich an als würde ein glitschiger, feuerspuckender Aal seine Kehle hinuntergleiten. Er musste beinahe würgen und bekam einen heftigen Hustenanfall, aber tatsächlich waren die Kopfschmerzen schon nach fünf Minuten auf ein sanftes Pochen zusammengeschrumpft und nach weiteren fünf Minuten waren sie vollends verschwunden.
»Vielen Dank«, sagte Harry aufrichtig.
Madam Pomfrey nickte nur. »Das ist mein Job. Und Sie kamen schon wegen Schlimmerem als Kopfschmerzen zu mir. Sie dürfen jetzt gehen, Potter.«
Harry entfernte sich mit langsamen Schritten vom Krankenflügel. Eigentlich hatte er gar keine Lust in den Gryffindor-Gemeinschaftsraum zu gehen. Sicher würden Ginny, Ron und Hermine schon auf ihn warten. Zwar waren seine Kopfschmerzen verschwunden, aber zu seinen Freunden zu gehen und mit ihnen den ganzen Abend über belangloses Zeug zu reden behagte ihm trotzdem nicht. Am liebsten hätte er sich den alten Unsichtbarkeitsumhang seines Dads über den Kopf geworfen, sodass er im Schloss umherwandern und in Erinnerungen schwelgen konnte, ohne dass ständig jemand fragte, warum er nichts sage oder warum er so abwesend wirke. Harry liebte Ron und Hermine von ganzem Herzen, sie waren seine Familie, sein Zuhause, aber seit dem Krieg hatten sie sich irgendwie voneinander distanziert. Harry hatte zwar alles dafür gegeben sich nichts anmerken zu lassen, aber er war sicher, dass Hermine es gemerkt hatte.
Gedankenverloren spazierte er die Marmortreppe hinauf und zuckte erschrocken zusammen, als die Treppe sich plötzlich bewegte. Fast hatte er vergessen, dass das bei den Treppen in Hogwarts so üblich war. In letzter Zeit erschreckte ihn einfach alles; ständig hatte er das Gefühl verfolgt zu werden, doch wenn er sich umdrehte, war da niemand. Seine immer wiederkehrende Albträume machten das auch nicht besser. Es war im vergangen Jahr oft passiert, dass Ron ihn mit einer saftigen Ohrfeige wecken musste und Harry dann schweißnass und tränenüberströmt aufwachte. Er hatte das ganze letzte Jahr bei den Weasleys verbracht - woanders konnte er nicht mehr hin - und hatte sich das Zimmer mit Ron geteilt.
Harry war sich sicher, dass seine Albträume etwas damit zutun hatten, dass er bei den Weasleys lebte. Mr. und Mrs. Weasley gaben immer vor glücklich zu sein, machten quasi so weiter wie bisher, aber man merkte ihnen an, wie stark ihnen der Tod ihres Sohnes Fred zugesetzt hatte. Und dann war da noch George. George war fast nie aus seinem Zimmer gekommen, hatte nur lustlos in seinem von Mrs. Weasley liebevoll zubereiteten Essen herumgestochert und Löcher ins Leere gestarrt, was zur Folge hatte, dass er ziemlich stark abgenommen hatte - kurzum, George war nicht mehr derselbe und würde es ohne die zweite Hälfte seines Herzens vermutlich auch nie wieder werden. Harry gab sich die Schuld für Freds Tod - eigentlich gab er sich die Schuld an jedem Tod - und es zog ihn noch weiter runter, die Folgen von Freds Ableben zu sehen.
Mrs. Weasley, die Harry liebte wie einen eigenen Sohn, wusste genau, was in ihm vorging und beteuerte immer wieder, dass es nicht Harrys Schuld sei, dass er nichts dafür könne, doch Harry glaubte ihr nicht.
Als die Treppe, auf der Harry stand, mit einem leisen Rütteln an den nächsten Treppenabsatz andockte, lief er schnell die restlichen Stufen hoch, ohne zu wissen, wo er überhaupt hin wollte. Zuerst schlenderte er einfach durch die endlosen Korridore, besah sich die alten Gemälden, die sich allesamt bewegten. Die meisten von den Gestalten in den Bildern nickten ihm anerkennend zu, andere winkten fröhlich und wieder andere ignorierten ihn einfach.
Als er mit einem Mal bemerkte, wo seine Füße ihn hintrugen, hielt er jäh in seiner Bewegung inne. Er kannte diesen Weg sehr gut. Mechanisch trugen ihn seine Beine zum Astronomieturm. Dort oben war er lange nicht gewesen und eigentlich hatte er auch nicht mehr nach da oben gewollt, nachdem Dumbledore auf diesem Turm seinen letzten Atemzug getan hatte, bevor er vor Harrys Augen gestorben war. Doch jetzt ging er die lange Wendeltreppe zum Turm hinauf, wobei er darauf achtete, keine Geräusche zu machen, um Peeves nicht auf den Plan zu rufen. Auf eine Auseinandersetzung mit dem Poltergeist konnte Harry jetzt getrost verzichten.
Abrupt hielt er inne, als er ein Geräusch von der Plattform hörte. Erst dachte Harry, es sei nur eine Eule, die eine kurze Pause auf dem offenen Turm machte, aber bei genauerem Hinhören, klang es nicht nach einer Eule. Es hörte sich eher danach an, als würde jemand weinen. Nun noch leiser als vorher schlich er sich die Treppe weiter nach oben. Harry konzentrierte sich so sehr darauf, ja kein Geräusch zu machen, dass er gar nicht mehr auf die Treppe achtete. Irgendjemand musste ein Blatt Pergament (womöglich vom Unterricht) auf einer der Stufen fallen gelassen haben, auf dem Harry nun ausrutschte. Er fing sich mit den Händen auf dem harten Boden ab und keucht leise auf.
»Wer ist da?«, fragte eine Stimme, die Harry nur allzu vertraut war.
Kurz dachte er darüber nach, einfach liegen zu bleiben, bis Malfoy sich wieder umdrehte und sich einredete, er habe es sich nur eingebildet, und dann abzuhauen.
»Wer ist da?«, fragte Malfoy noch einmal; Harry hörte ein leichtes Zittern in der Stimme und musste beinahe lächeln.
Immerhin hat der auch sowas wie menschliche Gefühle, dachte Harry verbittert und stand auf.
»Angst, Malfoy?«, fragte Harry und besah sich den schlanken Blondhaarigen. Er sieht müde aus, dachte Harry und bemerkte wie zerstreut Malfoy wirkte. Seine sonst perfekt gestylten Haare standen zu allen Seiten ab, als wäre er sich mit den Fingern oft durchs Haar gefahren.
»Träum weiter«, erwiderte Draco nach einer kurzen Pause. »Was willst du hier, Potter?«
»Dasselbe könnte ich dich auch fragen«, sagte Harry müde und gähnte.
»Ich schnapp' nur mal frische Luft.« Draco drehte sich wieder um und sah hinaus auf die weiten Ländereien von Hogwarts. Er hatte nicht vergessen, was vor zwei Jahren genau an diesem Ort, auf dem Astronomieturm, passiert war. Die Entscheidung, nach Hogwarts zurückzukehren hatte er nicht leichtfertig getroffen, aber seine Mutter war davon überzeugt, dass es ihm in Hogwarts besser gehen würde als im Herrenhaus der Malfoys. Narzissa Malfoy war der Überzeugung, ihr Sohn habe viele Freunde auf Hogwarts; wenn sie gewusst hätte, dass ihn so ziemlich jeder in diesem Schloss hasste, hätte sie ihn wohl kaum gehen lassen. Doch wenn er davon angefangen hatte, wollte sie partout nicht zuhören.
Harry stellte sich ein paar Meter von Draco entfernt an das Geländer und schaute gen Himmel. Die Regenwolken waren inzwischen schwarz geworden - vielleicht gibt es ja ein Gewitter, überlegte Harry - und die Szenerie um ihn herum ließ sich nur schwer erkennen. Draco's blonder Haarschopf setzte sich unnatürlich hell von dem dunklen Hintergrund und Draco's schwarzer Schuluniform ab.
»Was willst du noch hier, Potter?«, fragte Draco unwirsch und funkelte ihn mit seinen grauen Augen an.
Harry hatte das Gefühl, in Draco's Augen würde das gleiche Schauspiel wie am Abendhimmel stattfinden; seine sonst so strahlenden Augen hatten einen dunkleren Ton angenommen und das Funkeln in der Iris sah aus wie Blitze.
»Dasselbe wie du. Frische Luft schnappen«, meinte Harry achselzuckend und wandte den Blick von Draco's faszinierenden Augen ab.
»Und warum tust du das unbedingt hier?«, fragte Draco zähneknirschend. »Warum gehst du nicht zu deinem haarigen Riesenfreund? Oder hast du alle deine Freunde aufgegeben und trittst das Heldendasein jetzt alleine an?«
Harry zog eine Augenbraue hoch. »Warum hasst du mich eigentlich so sehr?« Er wusste selber nicht, wo die Frage plötzlich hergekommen war.
Draco schien überrascht. Er schüttelte den Kopf und lachte trocken. »Du kapierst es nicht, Potter. Weißt du was? Wenn du nicht gehen willst, dann geh ich halt!«
Harry sah zu, wie Draco sich auf dem Stiefelabsatz umdrehte und die Treppe des Astronomieturms runterging.
Das Schuljahr fängt ja super an.

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Drarry // I won't let go
FanfictionHarry Potter entschloss sich nach der Schlacht von Hogwarts gegen den größten dunklen Zauberer, den die Welt je gesehen hatte - Lord Voldemort - nach Hogwarts zurückzukehren und dort sein siebtes und letztes Schuljahr zu beenden, bevor er seinen Ber...