Harry streifte durch die fast menschenleeren Korridore. Hatte er tatsächlich gerade Draco Malfoy davon abgehalten, vom Astronomieturm zu springen? Draco hatte so verletzlich, so traurig gewirkt. Harry fragte sich, wer zu Draco gesprochen haben musste, dass er so weit hatte gehen wollen. Harry überlegte die ganze Zeit, während ihn seine Füße zur Bücherei trugen. "Die Geschichten von Beedle dem Barden" beruhigten ihn irgendwie, wenn er aufgewühlt war. Er stellte sich vor, wie seine Mutter, Lily Potter, an seinem Kinderbettchen saß und ihm aus dem Buch vorlas, wenn er nicht schlafen wollte oder traurig oder wütend war. Sirius hätte sich wahrscheinlich in Animagus- Gestalt zu ihm gelegt und ihn aufgewärmt, während sein Vater, James Potter, neben Lily gestanden und ihr, die Hände auf ihre Schultern gelegt, zugehört hätte. Harry schüttelte den Kopf. Er wollte jetzt nicht sentimental werden. Er wollte sich einfach dieses Buch holen, sich in sein Bett legen und mit niemandem mehr reden.
Mit dem Buch in den Händen saß Harry auf einem der Sofas in der ansonsten leeren Bibliothek. Nicht einmal die Bibliothekarin war da. Er hatte sich entschieden, die Stille des Raumes zu genießen und das Buch einfach hier zu lesen.
Gerade hatte er es aufschlagen und lesen wollen, als ihn leise Schritte hinter ihm ablenkten. Er ging in Angriffsstellung und als er spürte, dass der Angreifer nicht mehr weit von ihm entfernt stand, sprang er leichtfüßig über die Rückenlehne des Sofas und stürzte sich auf den Unbekannten. Wild rollten sie auf dem Boden herum, Harry hatte ihm schon einige saftige Schläge mit dem Buch verpasst, als Harry plötzlich bemerkte, auf wem er da überhaupt lag. Unter ihm, die Augen weit aufgerissen und das blonde Haar wild vom Kopf abstehend, lag kein anderer als Draco Malfoy.
»Meine Güte, bleib mal locker«, presste Draco erstickt hervor.
Harry schnürte ihm mit seinem Gewicht, das auf dem schlanken Körper lag, wahrscheinlich ziemlich die Luft ab. Vorsichtig stieg er von dem Jungen runter und entschuldigte sich murmelnd.
»Was willst du, Malfoy? Ich hätte nicht erwartet, dass du nach vorhin einfach so durchs Schloss spazierst, als wäre nichts gewesen.«
»Nicht das es dich was anginge«, erklärte Draco und strich sich lässig die Haare aus den Augen. »Ich wollte mir ein Buch holen.« Er stieß ein freudloses Lachen aus, als sein Blick auf das Buch in Harrys Händen fiel. »Aber wie ich sehe, bist du mir mal wieder zuvorgekommen.«
Harry sah sein Gegenüber erstaunt an. »Du wolltest "Die Geschichten von Beedle dem Barden" lesen? Ich hab mit einigem gerechnet, aber damit sicher nicht.«
»Wie gesagt, es geht dich nichts an.« Draco schien allmählich die Geduld zu verlieren. Gelangweilt sah er Harry an. »Gib's mir.«
»Nicht vor dem dritten Date«, gab Harry ohne nachzudenken zurück. Er war sich ziemlich sicher, dass Dracos Mundwinkel zuckten, doch bevor er es richtig sehen konnte, war wieder der genervte Ausdruck des Slytherinprinzen auf sein Gesicht getreten.
»Ich meins ernst, Potter. Gib mir das Buch.« Er verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sag bitte.« Harry würde sicher nicht der erste sein, der nachgab, selbst wenn es ihm ein wenig gemein vorkam, nachdem, was sie früher am Abend erlebt hatten.
»Das werde ich nicht tun. Also gib mir einfach das Buch.« Ein Hauch von unterdrücktem Zorn schwang in Dracos Stimme mit, doch Harry war noch immer nicht bereit, das Buch kampflos abzugeben.
»Na gut, dann ist dir das Buch wohl nicht so wichtig. Ich werde es dann jetzt mit auf mein Zimmer nehmen und wer weiß, vielleicht behalte ich es ja die ganze Woche.« Er ging an Draco vorbei und schlenderte gemächlich zur Tür.
»Ach, mach doch was du willst, Potter. Dann nehme ich eben eine andere Ausgabe.«
Harry drehte sich nicht um. »Also eigentlich ist das hier die einzige Ausgabe«, sagte er mit unverhohlener Genugtuung in der Stimme. Er wusste, dass er es einen Millimeter zu weit getrieben hatte, doch nun konnte er die Worte auch nicht mehr zurücknehmen.
Draco stürmte an ihm vorbei und rempelte ihn dabei so heftig an, dass Harry ins Stolpern geriet und beinahe gegen ein Bücherregal gekracht wäre. Er konnte sich im letzten Moment noch halten und ohne über den nächsten Schritt nachzudenken, lief er dem Slytherin hinterher.Wie konnte Potter es wagen?! Draco wollte doch nichts weiter als dieses Buch. Aber nein, der große Harry Potter, der dem armen, bösen, blöden Draco Malfoy zum wiederholten Male den Arsch gerettet hatte, konnte ihm nicht einfach dieses Buch überlassen. Draco schlug die Tür zum Slytheringemeinschaftsraum auf und ging ohne jemanden eines Blickes zu würdigen in sein Schlafzimmer. Er zog sich das Hemd und den Pullover aus, die ihm plötzlich viel zu eng und heiß vorkamen, warf sie auf einen Stuhl in der Nähe und legte sich ins Bett. An die Decke starrend versuchte er, die heißen Tränen zurückzuhalten, die in ihm hoch zu steigen drohten. Potter mit seiner legendären Narbe und diesen verdammten Augen und diesem blöden Haar! Wie konnte er es wagen? Draco wollte gerade Pansys Angebot annehmen und mit ihr neue Potter-Stinkt-Anstecker herstellen, als seine Tür aufschwang und jemand in sein Zimmer kam. Draco hatte sich so sehr erschreckt, dass er aufgesprungen und mit dem Kopf gegen die Zimmerdecke geknallt war. Er ließ sich wieder aufs Bett fallen und rieb sich den Kopf, während die Person, die sein Zimmer betreten hatte und scheinbar unsichtbar war, die Tür wieder schloss. Eine Hand erschien aus dem Nichts und warf ein Buch auf Dracos Bett. "Die Geschichten von Beedle dem Barden" stand auf dem Einband.
»Potter?«
Harry streifte den Unsichtbarkeitsumhang vom Körper und warf ihm zu Dracos Klamotten auf den Stuhl. »Da hast du dein Buch. Aber glaub ja nicht, dass die Sache damit geklärt wäre. Ich brauche das Buch genauso dringend wie du. Du kannst mir so oft sagen, dass es mich nichts angeht, wie du willst. Ich weiß, warum du das Buch brauchst. Rate mal, warum ich es gerade lesen wollte.«
Draco starrte ihn nur verblüfft an. »Du auch?«, fragte Draco leise und heftete den Blick auf das Buch.
Harry nickte und setzte sich ohne zu fragen neben Draco auf das Bett. »Lass uns einen Kompromiss machen. Wir teilen das Buch.«
»Ach ja. Und wie stellst du dir das vor? Ernsthaft, ich dachte, du wärst klug. Willst du es in zwei Hälften schneiden oder was?«
»Lass mich doch mal ausreden. Wie wäre es, wenn wir das Buch einfach zusammen lesen?«
»Ganz sicher nicht«, antwortete Draco prompt, bevor Harry weiterreden konnte.
Dieser stöhnte entnervt und starrte Draco wütend an. »Und wieso sollte das nicht gehen?«
»Weil«, begann Draco, als liege die das auf der Hand, »du ein absolut langsamer Leser bist.«
Harry schwieg für einen Moment. »Diese Meinung vertrete ich persönlich zwar nicht, aber wenn du das so empfindest, kannst du es mir ja auch vorlesen.« Er zuckte nicht einmal mit der Wimper während er das sagte, wogegen Draco nun noch verblüffter war, als zuvor.
»Wer sagt, dass ich das mache?«
»Ich, denn wenn du es nicht tust, nehme ich das Buch einfach wieder mit.«
»Das nennt man Erpressung, Potter.« Draco verdrehte die Augen. »Und du kannst das nicht besonders gut.«
»Na gut. Dann wünsche ich dir noch einen schönen Abend.« Mit diesen Worten stand Harry auf, nahm sich das Buch, warf seinen Umhang über und ging zur Tür.
Gerade als er die Hand an den Türknauf legen wollte, hörte er Draco genervt seufzen.
»Warte.«
Harry drehte sich nicht um, sondern wartete ab, was Draco sagen würde.
»Meinetwegen.«
Harry grinste. Er wollte die Worte unbedingt aus Draco's Mund hören. »Deinetwegen was?«, fragte er mit ahnungsloser Stimme.
»Meinetwegen«, begann Draco, der seine Entscheidung offensichtlich immer mehr bereute. »Meinetwegen kann ich dir das Buch vorlesen. Aber wehe, du erzählst es irgendjemandem!«
»Würde ich nie tun«, beteuerte Harry und warf seinen Umhang wieder zur Seite. »Ist man in deinem Bett nur oben ohne gestattet oder darf ich den Pulli anbehalten? Es ist ein bisschen kalt hier, finde ich.«
Draco sah einen Moment verdutzt zu Harry, dann auf seinen nackten Oberkörper und lächelte dann süffisant.

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Drarry // I won't let go
FanfictionHarry Potter entschloss sich nach der Schlacht von Hogwarts gegen den größten dunklen Zauberer, den die Welt je gesehen hatte - Lord Voldemort - nach Hogwarts zurückzukehren und dort sein siebtes und letztes Schuljahr zu beenden, bevor er seinen Ber...