Tag 1 ohne dich

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Gestern Abend konnte ich dich nicht erreichen. Ich dachte, dein Termin ging doch länger, aber als du um 21 Uhr noch immer nicht an dein Handy gegangen bist und nur die Mailbox ansprang, machte ich mir fürchterliche Sorgen. Ich rief im Hotel an und stellte mich als deine Frau vor. Ich fragte nach, ob sie mich mit deinem Zimmer verbinden konnte, aber sie antwortete mir, dass du das Hotel noch nicht betreten hattest. Genau in diesem Moment klingelte es. Als ich öffnete, stand die Polizei vor meiner Tür. Sie fragten, ob sie reinkommen durften und ohne ein Wort winkte ich sie durch. Ich fragte, was passiert war und konnte an ihrem Blick, den sie miteinander austauschten, erkennen, dass es etwas Schlimmes war.

Sie teilten mir mit, dass du in einen Schneesturm geraten warst. Dein Auto hatte sich mehrfach überschlagen. Ich nahm ihre Worte nur undeutlich wahr. Träumte ich? Sie sahen mich fragend an, als warteten sie auf eine Antwort. Der jüngere Polizist klärte mich über den Psychologen auf, aber davon wollte ich nichts wissen. Ich schickte sie weg. Ich wollte alleine sein. Nein, eigentlich wollte ich nicht alleine sein. Ich wollte, dass du hier warst. Bei mir. Zum Schluss überreichten sie mir dein Handy. Dein Display war kaputt und das erklärte, warum die Mailbox angesprungen war. Dann war ich alleine.

Ich war kurz davor, mir ein Glas Wein einzuschenken, aber dann dachte ich seit der schrecklichen Nachricht zum ersten Mal an das Baby und stellte das Glas zurück in den Schrank. Du würdest nie erfahren, ob es ein Mädchen oder Junge wird. Deine grenzenlose Liebe gab es nicht mehr. Mein Baby wird nur mit einer Mama aufwachsen und ich bin mir nicht sicher, ob ich das schaffen werde.

Deine letzten Worte waren: »Pass gut auf dich und das Baby auf, ich liebe euch.« Wie konntest du das sagen und dann einfach verschwinden? Ich bin wütend auf dich. Warum bist du gefahren, obwohl ich dich gebeten hatte, es nicht zu tun? Ich sitze hier am Küchentisch, meine Hände zittern und meine Tränen verwischen die Worte, die ich gerade aufgeschrieben habe. Immer wieder schaue ich zur Tür, weil ich hoffe, dass du nach Hause kommst und mir sagst, dass es alles nur ein Missverständnis war. Dass du lebst und nie wieder weggehen wirst.

Heute war ich bei Lina. Aber sie hatte nur in die Luft gestarrt, ihre Augen waren rot geweint und Felix sagte mir, sie hätte seit der Nachricht nicht mehr gesprochen. Vor zwei Tagen noch saßen wir zusammen in ihrem Wohnzimmer. Nun konnten wir das nie wieder tun. Sie tat mir so leid, ich wusste, welche Schmerzen sie hatte. Dann hatte Felix mich zurück nach Hause gefahren, er wollte nicht, dass ich bei dem Wetter lief. Er war wirklich fürsorglich und hatte sogar gefragt, ob ich bei ihnen bleiben wollte, aber ich hatte dankend verneint.

Wie soll ich bitte in dem Bett schlafen, in dem wir so oft miteinander geschlafen hatten? Wie soll ich die Fotoalben ansehen, ohne dass mir das Herz bricht? Wie soll ich in diesem Haus alleine leben, wenn dein Lachen nicht mehr die Räume füllt? Alles riecht nach dir, sogar ich. Ich hatte mir deinen Lieblingspullover geschnappt und ihn angezogen. So fühlte ich mich dir etwas näher. Für einen Moment hatte ich die Augen geschlossen und der Schmerz überkam mich so heftig, dass ich ihn panisch ausgezogen und ihn in die Ecke geworfen hatte. Ich konnte es nicht ertragen.

Jetzt saß ich schon seit Stunden auf dem Küchenstuhl. Ich verspürte absolut keinen Appetit, aber für das Baby zwang ich mich zum Essen. Beim ersten Mal übergab ich mich, beim zweiten Versuch blieb es in mir. Von meiner Müdigkeit war nichts mehr zu spüren. Ich war hellwach, aber am liebsten wäre ich eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Oh, Gott. Kann das Baby meine Gefühle spüren? Meine Verzweiflung? Meine innere Zerrissenheit? Alles ist taub, aber irgendwie auch nicht. Verstehst du, was ich meine?

Meine Eltern habe ich noch nicht angerufen. Sie würden sich sofort ins Auto setzen und herkommen, aber das will ich auf keinen Fall. Das Wetter ist zu schlecht. Das würde ich nicht noch einmal zulassen. Und außerdem will ich gerade lieber alleine sein. Es ist schon nach Mitternacht, kannst du das glauben? Dass ich so lange durchhalte?

Ich gehe jetzt aber doch nach oben ins Bett. Nach diesem Brief hier weiß ich nicht, wie ich mich fühlen soll. Es ist doch verrückt, oder? Briefe an eine Tote zu schreiben? Aber ich habe das Gefühl, dir damit näher zu sein.

Ich kann es noch immer nicht glauben und realisieren. Du bist nicht mehr da und wirst es auch nie wieder sein. Seit über 24 Stunden lebe ich mit dieser schrecklichen Gewissheit, die mein Leben komplett zerstört hat. Wie soll ich ohne dich leben? Ich liebe dich doch so sehr, Greta. Für immer. Ich habe es dir geschworen und werde mein Versprechen nicht brechen.

In Liebe,
Amelie

In Liebe, Amelie || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt