Tag 9 ohne dich

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Meine Eltern waren immer noch bei mir. Sie boten mir an, morgen mit ihnen nach Hause zu fahren. Ich konnte in meinem alten Zimmer wohnen, aber das lehnte ich ab.

Heute war für mich nur eines wichtig - deine Beerdigung. Du warst so ein lebensfroher Mensch, wir hatten uns nie ernsthaft über den »was wäre wenn« Fall unterhalten. Ich bereue es jetzt. Du hättest mir deine Wünsche mitteilen können, aber das hast du nicht. Du warst der festen Überzeugung, dass wir beide ein langes Leben führen würden. Und was soll ich dir sagen? Du hast dich geirrt.

Meine Eltern fuhren mit mir zum Friedhof. Im Auto bekam ich eine Panikattacke. Unterwegs mussten wir anhalten, damit ich frische Luft schnappen konnte. Gleichzeitig musste ich mich übergeben. Als wir beim Friedhof ankamen, waren dort bereits einige Menschen versammelt. Ich sah Lina in ihrer Mitte, sie war wie eine Maschine, sie reagierte nur mechanisch. Es waren Freunde gekommen, die Familie und einige deiner Arbeitskollegen. Alle sprachen sie uns ihr Beileid aus und ich wollte am liebsten weglaufen. Auf der Beerdigung brach ich zusammen. Ich konnte es nicht ertragen. Warum war das alles nur so unfair? Warum du? Warum ausgerechnet du? Du warst der beste Mensch mit dem größten Herzen, den ich kannte. Ich hatte einige Worte aufgeschrieben, die ich dir sagen wollte, aber als ich dort mitten auf dem Friedhof stand, brachte ich kein Wort über die Lippen. Ich schickte sie dir im Stillen zu. Ich hoffe, sie haben dich erreicht. Lina sagte einige Worte, aber alle merkten, wie schwer es ihr fiel. Ich hatte nicht nur meine Frau und die zukünftige Mama meines Babys verloren. Lina hatte auch ihre Mutter verloren. Ich hielt fast die ganze Zeit über ihre Hand.

Nach der Beerdigung hatten wir ein kleines Büfett organisiert. Irgendjemand fing an, von dir zu sprechen. Jeder mochte dich, war dir das überhaupt klar? Keiner verlor auch nur ein schlechtes Wort über dich. Ich wusste, dass es nicht nur am Anstand lag, sie meinten es wirklich so. Ich zwängte mir Salat und Brot rein, mehr bekam ich nicht herunter. Nach und nach verabschiedeten sich die Gäste und sprachen uns noch einmal ihr Beileid aus. Ich war so neidisch auf sie. Sie würden nach Hause zu ihren Familie fahren und ruhig schlafen können. Die meisten jedenfalls.

Wir räumten auf und Lina und ich nahmen uns stumm in den Arm. Dann streichelte sie über den Bauch und sofort schossen mir Tränen in die Augen. Sie hatte mir leise zugeflüstert, dass wir für das Baby stark sein mussten. Dann fuhr ich mit meinen Eltern nach Hause. Sie fragten, ob sie nicht doch länger bleiben sollten, sie mussten nur in der Firma Bescheid geben, aber das wollte ich nicht. Die Beerdigung war vorbei, sie konnten nichts mehr für mich tun. Den Kampf in mir konnte ich nur mit mir selbst austragen.

Am Abend saßen wir zusammen am Tisch. Sie sprachen mit mir, aber ich verstand kein Wort, weil ich alles ausblendete. Ich konnte die Blicke sehen, die sie miteinander tauschten, aber sagte nichts. Nachts hörte ich meine Mama weinen. Auch ihr setzt dein Verlust zu, weißt du das eigentlich? Sie liebten dich. Kannst du dich noch an den Abend in unserem Garten erinnern? Als wir meiner Familie sagten, dass wir beide ein Paar waren? Als meine Oma noch unter uns war? Falls du sie triffst, sag ihr bitte, dass ich auch sie vermisse.

Meine Eltern gingen zu Bett, aber ich konnte nicht schlafen. Ich betrat das noch fast leere Kinderzimmer. Einige Sachen hatten wir schon gekauft und wir wollten bald losfahren, um den Rest zu besorgen. Daraus wird jetzt nichts mehr, nicht wahr? Wie soll ich all diese Entscheidungen alleine treffen? Die Farben, die Muster - das alles scheint so weit entfernt zu sein, wie von einem anderen Planeten.

In der Küche hatte ich vorhin noch mit meinen Eltern gesprochen und sie haben mich nun doch überredet, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch wenn sich alles in mir wehrt, muss ich diesen Schritt gehen. Irgendwann muss es weitergehen, spätestens wenn das Baby da ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wird. Ohne dich kann ich mir gar nichts mehr vorstellen. Aber das ist doch ein guter Schritt in die richtige Richtung, oder?

Von den Briefen hatte ich niemandem erzählt. Sie würden mich für verrückt halten. Aber bin ich das? Verrückt? Wenn du mich früher mit einem Lachen im Gesicht verrückt genannt hattest, fand ich das immer schön. Wenn ich jetzt daran dachte, empfand ich direkt das Gegenteil.

Ich fühlte mich bei dir angekommen. Nun stand ich wieder am Bahnhof und wartete auf einen Zug, der mich mitnahm und mit mir in die richtige Richtung fuhr. Aber noch waren die Züge zu schnell, den Einstieg schaffte ich bei dieser Geschwindigkeit nicht. Ich musste Geduld haben und hoffen.

Ich möchte dich nicht so fürchterlich vermissen. Denkst du, es wird irgendwann aufhören? Denkst du, ich schaffe es alleine mit dem Baby? Ich habe so Angst, zu versagen. Von meinem früheren Selbstbewusstsein ist nichts mehr übrig. Ich versuche, daran zu arbeiten, aber immer wieder passieren Dinge, die mich wieder komplett aus der Bahn werfen. Und vor allem habe ich Angst. Angst davor, dich zu vergessen und mich nicht mehr an deine Stimme, an deinen Geruch und an dein Gesicht erinnern zu können.

Am liebsten würde ich mir meine Arme abreißen, um dich loszulassen. Aber es ist noch zu früh, zu schmerzhaft. Ich denke den ganzen Tag an dich, für andere ist kein Platz mehr. Jetzt versuche ich, etwas zu schlafen. In deiner Lieblingsdecke. Es fühlt sich fast wie eine Umarmung von dir an. Aber nur fast, deine Arme konnte nichts ersetzen. Ich liebe dich so sehr.

In Liebe,
Amelie

In Liebe, Amelie || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt