Tag 72 ohne dich

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Ach, Greta. Wenn du mich nur sehen könntest. Du würdest mich nicht mehr erkennen. Mein Bauch ist schon so schön rund und das Baby entwickelt sich prächtig. Ich wollte mir beim letzten Mal sagen lassen, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird. Ich war wirklich kurz davor, aber habe es nicht getan. Das war dein einziger Wunsch, du wolltest, dass wir uns überraschen lassen. Dafür durfte ich die Namen aussuchen, du hast zwar Vorschläge geäußert, aber ich fand deine Auswahl nicht sehr prickelnd. Und ich möchte dir deinen Wunsch erfüllen. Ich könnte nicht damit leben, dich so zu hintergehen.

Das Wetter draußen ist wieder etwas besser. Ich habe unser Boot die Tage gesehen, habe daran seit dem letzten Sommer nicht mehr gedacht. Ich weiß nicht, ob ich damit wieder fahren möchte. Eigentlich schon. Vielleicht mit dem Baby? Immerhin hatten wir beide eine tolle Zeit darauf.

Manchmal überkommen mich heftige Selbstzweifel. Ich dachte immer an die perfekte Familie mit dir. Unser Kind sollte gut behütet bei zwei Mamas aufwachsen und nun werde ich bald alleinerziehend sein. Wird meine Liebe reichen? Werde ich den Alltag stemmen können? Ohne deine Unterstützung?

Es gibt noch immer viele schlaflose Nächte, weil ich so viel an dich denken muss. Manchmal überfallen mich dann Panikattacken oder ich weine so heftig, dass ich danach vor Erschöpfung einschlafe. Ich glaube, ich werde mich nie daran gewöhnen können, dass du nicht mehr hier bist. Da, wo du eigentlich hingehörst.

Kannst du dich noch daran erinnern, als du mir ein Lied aufgenommen hast? Ich habe es gestern angesehen und angehört. Das erste Mal seit vielen Jahren. Ich hatte es gar nicht mehr auf dem Schirm und hatte es nur zufällig entdeckt. Deine Stimme. So klar. So wunderschön. So herzzerreißend. Ich musste es mehrere Male ansehen. Irgendwann habe ich das Mitzählen aufgegeben und mir nur gewünscht, die Zeit zurückdrehen zu können. Ich habe so Angst, deine Stimme irgendwann zu vergessen, mich einfach nicht mehr an sie erinnern zu können.

Unsere Liebe war nicht immer einfach. Wir haben viele Höhen und Tiefen erlebt, die uns aber nur noch stärker zusammengeschweißt haben. Aber unsere Liebe war echt. Ehrlich, aufrichtig und stark. So etwas findet man nicht an jeder Ecke, wir haben uns beide bedingungslos geliebt und ich bin so froh, dass ich die Erfahrung machen durfte. Und eines habe ich gelernt: manchmal ist es egal, wie stark eine Liebe ist. Sie kann nicht alles ertragen. Manchmal reißt sie einen in die Tiefe und hinterlässt Risse, weil man zu sehr liebt. Aber ich kann mit Stolz sagen, dass du immer ein Teil meines Herzens bleiben wirst, Greta.

Jetzt sitze ich wieder hier am Küchentisch und sehne mich nach deiner Wärme. Noch oft denke ich an unseren ersten Kuss, an unser erstes Mal und an all die anderen Dingen, die wir zum allerersten Mal zusammen getan haben. Wir haben zusammen die Welt entdeckt. Hatten immer viel Spaß miteinander und haben voneinander viel gelernt. In jeder Hinsicht. Eine Umarmung von dir würde meine Welt zusammenhalten, aber du wirst mich nie wieder umarmen und ich muss versuchen, mir diesen Halt nun alleine zu geben.

Bevor ich dich lieben gelernt habe, hätte ich niemals gedacht, dass man für einen einzigen Menschen so verdammt viel Liebe empfinden kann. Weißt du, was das Schlimme ist? Ich spüre dich noch immer überall und das macht mich auf der anderen Seite verrückt, aber auf der anderen Seite bin ich froh, dass es so ist, weil das ein vertrautes Gefühl ist. Ergibt das Sinn?

Gestern war ich an deinem Grab. Obwohl ich zuvor viel geweint hatte und dachte, dass keine Tränen mehr fließen würden, kamen auf dem Friedhof ganze Sturzbäche aus mir heraus. Aber so bin ich. So kennst du mich. Ich war schon immer sehr emotional, aber es kann nur besser werden, daran muss ich glauben.

Heute früh hat Paul mich angerufen, kannst du das glauben? Er hat nachgefragt, wie es mir geht. Nach all den Jahren bin ich noch immer wütend auf ihn. Was er dir damals fast angetan hat, werde ich nie vergessen. Aber ich möchte keinen Groll mehr gegen in hegen und meine Energie verschwenden, denn die brauche ich für die wirklich wichtigen Dinge. Für das Baby und für mich selbst. Ich muss wieder auf die Beine kommen. Nur das zählt.

Lina kommt mich heute Abend besuchen. Wir wollen einen Film ansehen. Jedes Mal, wenn sie das Haus betritt, merke ich ihr an, wie sehr es sie mitnimmt, aber sie gibt sich große Mühe, das zu verstecken. Ich weiß, dass sie dich sehr vermisst. Aber sie ist stark. Zum Glück haben wir uns noch, sie ist ein wichtiger Mensch in meinem Leben. Du warst mein großer Anker, aber du hast mir auch meine beste Freundin - meinen etwas kleineren Anker - geschenkt. Sie wird mich unterstützen, wenn das Baby bald kommt. Sie wird eine tolle Schwester. Früher hat sie sich immer beklagt, dass sie Einzelkind ist. Das durfte ich mir so oft anhören und jetzt ist sie bald kein Einzelkind mehr, auch wenn es nicht dein Fleisch und Blut ist - ich weiß, dass sie das Baby lieben wird. Als wäre es von dir. So wie du es auch getan hättest.

72 Tage bin ich jetzt alleine, schlafe jeden Abend alleine ein und wache jeden Morgen alleine auf. Man könnte sagen, ich hätte mich daran gewöhnt, aber so ist es nicht. Ich glaube, es ist egal, wie lange es her ist. Ich werde nie damit aufhören, dich zu lieben und an dich zu denken. Ich hoffe nur, dass es irgendwann nicht mehr so schmerzt und mir das Herz zerreißt.

Ich werde deine strahlend blauen Augen und die Art, wie du mich angesehen hast, nie vergessen können. Wie könnte ich auch? Es ist doch unmöglich.

In Liebe,
Amelie

In Liebe, Amelie || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt