Kapitel 6

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Kapitel 6

Sichtwechsel:

Der Rest des Tages flog wie ein Traum an mir vorbei. Ich kann nicht sagen, was der Tag noch so alles mit sich brachte oder wie das Wetter war. In meiner Erinnerung war alles grau, wie vernebelt. Ich weiß eigentlich nur noch, dass ich nach dem Klingeln meine Sachen mit einem Wisch in die Tasche beförderte und stur auf das Auto zuging. Ich zog den Schlüssel hervor und schloss die Beifahrertür auf. Die Schultasche wurde auf den Sitz gepfeffert und die Tür mit einem Knall wieder ins Schloss geworfen. Ich war gerade dabei um das Auto herum zu gehen, um zum Fahrersitz zu gelangen, als ich aus meiner tristen schwarz-grauen Welt zurück ins hier und jetzt befördert wurde. Claire und Embry liefen über den Parkplatz auf Claires Auto zu. Sie hatte sich bei ihm untergehakt und ich konnte nicht anders, als zu den beiden herüber zu starren. In meinem Kopf wummerte es, als würde ein dreijähriges Kind völlig unkontrolliert auf einem Schlagzeug herumschlagen. Mein Brustkorb schnürte sich zusammen und automatisch schnappte ich nach Luft. Wärme stieg in mir auf begleitend von dem verheißungsvollen Zittern, das meine Verwandlung ankündigte. Plötzlich fühlte ich mich in eine längst vergangene Situation zurück versetzt. Ich fühlte mich wie kurz nach dem Tod meines Vaters, als ich mich das erste Mal verwandelt hatte, oder auch die darauffolgenden Wochen und Monate in denen ich meine Verwandlung nicht hatte kontrollieren können. Und jetzt genau in diesem Moment, wo ich Claire mit meinem Freund zusammen sah und sie bei ihm viel glücklicher wirkte als bei mir, wo es doch eigentlich anders sein sollte, fühlte ich mich wieder genauso hilflos, genauso ausgeliefert. Die einzige Reaktion, die ich zu Stande brachte, war das Ballen meiner zitternden Faust. Auch meinen Kiefer presste ich hart aufeinander.

Eine eiskalte Hand legte sich auf meine Schulter. Blitzschnell drehte ich mich um und ein Knurren stieg in mir auf und entwich mir durch meine zusammengepressten Zähne. Hinter mir stand Edward und sah mich aus seinen goldenen Augen ernst an.

„Seth, komm mit.“, sagte er leise, aber mit Nachdruck in seiner Stimme. Ich hörte ihn, doch seine Worte verstand ich nicht. Sie kamen nicht in meinem Gehirn an, der Sinn ging irgendwo zwischen uns in der Luft verloren. Ich merkte wie das Zittern erneut anschwoll und, dass Edward sofort reagierte. Er nahm mich hart am Arm und zog mich hinter sich her. Zu der Wut kam nun eine unbändige Wut hinzu. Zum einen auf Embry, der genau wusste, welches Schicksal Claire und mich verband und der mich eigentlich verstehen sollte und mich stattdessen verriet. Zum anderen auf Edward, der mit mir Umsprang wie mit einem Tier. Ich wusste allein dieser Gedanke war lächerlich, schließlich war ich zur Hälfte ein Tier und quasi drauf und dran mich vollends in eines zu verwandeln. Und dann war da noch auf die Wut auf mich selbst, weil ich es einfach nicht über mich brachte Claire alles zu erzählen, dass ich meinen Gefühlen hilflos ausgeliefert war und ich mich noch nicht einmal mehr selbst davon abbringen konnte mich ungewollt zu verwandeln. Was mir noch auffiel war, dass sich meine Wut in keinem einzigen Punkt gegen Claire richtete. Irgendwie beruhigte mich das, dann würde ich ihr schon mal nicht gefährlich werden. Hoffentlich. Dann stellte sich mein Gehirn ab. Ich merkte nur noch wie Edward mich vor sich her, in Richtung Wald schubste, der direkt an den Schulparkplatz grenzte. Ich bemerkte auch nicht, dass Claire uns verwirrt hinterher sah.

Edward drängte mich in den Wald und im Schutz der alten Bäume, die noch nicht einmal das spärliche Licht durch ihr Blätterdach ließen, konnte ich mich nicht mehr zurück halten. Ich lockerte meinen Kiefer und die Fäuste. Das Zittern schwoll ein letztes Mal an und dann platzte ich aus mir heraus. In binnen eines Wimpernschlags hatte ich mich vom Sunnyboy zum pferdehohen Wolf gewandelt. Ich stand ganz still neben dem Vampir, mit dem mich seit jeher so etwas Ähnliches wie Freundschaft verband. Wir waren der lebende, naja lebende und untote Beweis dafür gewesen, dass es auch anders ging. Dass Werwölfe und Vampire miteinander auskommen konnten, wenn sie es nur wollten. Natürlich war es nicht gerade einfach, aber es war möglich. Wenn Edward meine Gedanken eben nicht gehört hätte, wäre ich vor den Augen der gesamten Schüler der High-School zu dem riesigen grau-braunen  Wolf geworden und hätte innerhalb von Sekunden all das zerstört was die Cullens sich und auch uns Wölfen aufgebaut hatten. Ich schämte mich für meine Schwäche. Edward sah mich mitfühlend an und legte dann zögernd seine eiskalte, blasse Hand auf meine Schulter. Dort ließ er sie kurz liegen, bevor er sie wieder zurückzog. Obwohl es nur eine kurze Geste gewesen war, tröstete sie mich ein wenig. Der Vampir drehte sich um und verschwand zwischen den Bäumen auf dem Parkplatz. Ich sah ihm kurz nach, dann winselte ich leise und lief los. Erst nur im leichten Laufschritt, den Kopf mit Bildern gefüllt, die vor meinen geistigen Augen vorbeizogen. Je schneller die Bilder wurden, desto schneller bewegten sich auch meine Beine, bis in meinem Kopf nur noch Chaos war und ich pfeilschnell zwischen den Bäumen hindurch preschte. Ich war dankbar, dass keiner der anderen ebenfalls in Wolfsgestalt war, ansonsten hätte ich all das Chaos und meine Verwirrung mit ihnen teilen müssen und das war das letzte, was ich jetzt wollte. Ich wusste nicht warum, aber ich konnte nicht sauer auf Claire sein und das, was mich nur noch mehr verwirrte war, dass ich trotzdem zu gerne sauer auf sie sein wollte. Ich wurde wieder langsamer. War das normal? War es normal, dass man sich wünschte Wut auf die Person verspüren zu können, auf die man geprägt war? Was war das mit Claire und mir? Warum wollte ich wütend auf sie sein? Und warum schien sie überhaupt nichts von der Verbundenheit zu spüren, die die Prägung eigentlich bei ihr auslösen müsste? Und warum, um alles in der Welt, schien es ihr nichts auszumachen mit Embry zu flirten? Ich versuchte wirklich angestrengt den letzten Gedanken möglichst aufgebracht zu denken, musste jedoch verzweifelt feststellen, dass es immer noch ziemlich liebevoll klang. Zumindest alles andere als aufgebracht! Bei dem Gedanken an Embry entwich meiner Kehle ein weiteres Knurren, das ziemlich aufgebracht klang. Ich jaulte auf, weil ich keine Antworten auf meine Fragen hatte. Weil ich Claire vermisste und weil es mich schmerzte, dass ich ihr offensichtlich so gleichgültig war.

Last Moment - Bis(s) zum letzten AugenblickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt