Kapitel 2

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23. Juni 1916

An: Leonie Gruber, Schneidergasse 3, Passau

Von: Simon Gruber

Liebste Leonie,

meine schlimmste Befürchtung ist wahr geworden. Meine Kompanie wurde in eine Offensive geschickt.

Wir sind nahe Verdun. Dort sollen wir die schwer befestigten Forts einnehmen. Ein paar Tage nachdem wir angekommen sind, ging der Angriff auch schon los.

Tausende Geschütze schossen Tag und Nacht. Sogar zwei riesige Schiffsgeschütze waren dabei. Fast synchron wurden die Stellungen und Dörfer bombardiert. Eine riesige Granate ging in einem Dorf nieder. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie viele Tote es dabei gab.

Mittlerweile feuern die Geschütze im Trommelfeuer. Als der Kommandant den Befehl zum Angriff gab, stürmten wir alle auf einmal los. Das war ein riesiger Fehler. Auf einmal eröffneten die MGs der Franzosen das Feuer.

Wir hatten keine Deckung. Es fielen bestimmt tausende. An diesem Tag färbte sich das Wasser der Maas rot vom Blut. Auch zwei meiner Kompanie Kameraden waren darunter. Sie wurden getroffen und fielen einfach um. So als ob sie Schaufensterpuppen seien.

Ich schaffte es schließlich bis zu einem Schützengraben und ließ mich hinein gleiten. Doch dort saß noch ein Franzose. Er sollte wahrscheinlich die Anderen auf dem Rückzug decken.

Es war als ob die Zeit stehen geblieben sei. Wir hatten unsere Waffen im Anschlag, doch keiner wagte es auf den Andern zu schießen. Als er bemerkte, dass ich ihn nicht erschießen wollte, passierte etwas komisches.

Er bedankte sich. Er drehte sich um, lief los und rief im Laufen ,,Merci". So
etwas hatte ich noch nie erlebt. Es war wie ein Zeichen von oben. So als ob mir Gott etwas zu verstehen geben wollte.

Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, strömten bereits weitere Soldaten hinter mir in den Schützengraben.

Anschließend mussten wir ein naheliegendes Mg Nest stürmen. Wieder fielen unsere Soldaten reihenweise. Es war, als würde der Tod mit seiner Sense ihre Seelen mähen. Und je näher wir dem Nest kamen umso schlimmer wurde es.

Als wir es schließlich geschafft hatten, freute sich keiner. Selbst bei einem so kleinen Widerstandsnest, waren Dutzende sinnlos getötet worden.

Seitdem hocken wir in diesem Fort und warten. Und das bei der Kälte. Es ist Juni, aber trotzdem regnet es hier dauernd. Und mit dem Regen kommt die Kälte. Jetzt werden nicht nur unsere Vorräte faulig, sondern auch unser Körper erfriert fast täglich in dieser Steinfestung.

Aber noch schlimmer dran als wir sind die Soldaten, die die Anhöhen verteidigen. Eine Anhöhe ist besonders berüchtigt. Sie wird ,,toter Mann" genannt. Hunderte sind schon bei der Verteidigung gestorben und trotzdem wechselt sie fast wöchentlich den Besitzer.

Außerdem scheint es, als würden die französischen Soldaten von unerschöpflicher Zahl sein. Egal, ob unsere Soldaten sie töten, es kommen immer Neue.

Unsere Kommandanten wollten Frankreich ausbluten lassen, doch stattdessen bluten wir langsam aus. Kaum einer von uns hat noch die Kraft zu gehen, geschweige denn zu kämpfen.

Wenn die Franzosen uns erreichen würden, könnte keiner ihnen Wiederstand leisten, so schwach sind wir bereits.

Am Anfang waren alle glücklich und in Feierstimmung, es den Nachbarn endlich zu zeigen, doch mittlerweile will jeder nur noch nach Hause.

Es ist eine beängstigende Stimmung hier drinnen. Kaum einer spricht, jeder hängt seinen eigenen Träumen und Wünschen nach.

Ich hoffe, dass dieser schreckliche Krieg bald endet. Ich habe schon zu viel Leid gesehen. Zu Vieles, was ich am liebsten vergessen würde. Doch ich kann es nicht.

Nachts verfolgen mich die Geister derer, die ich getötet habe. Es ist nicht auszuhalten. Ich werde hier drin verrückt.

Dein Simon.

300 Tage Hölle - Die Schlacht um VerdunWo Geschichten leben. Entdecke jetzt