Kapitel I

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I. Tag 

Er nahm den letzten Pfeil aus seinem Köcher und legte ihn auf die Bogensehne. Ein schöner Bogen war es. Das Holz mit Silberintarsien und Schnitzereien verziert. Aber nicht schöner oder anders, als jeder andere Bogen, den ein junger Elf zu seinem 15. Lebensjahr von seinem Meister bekam. Trotzdem liebte er seinen Bogen. Mehr als eine Klinge. Eine Klinge war schwer, ein Bogen leicht. Der Pfeil war schnell, die Klinge dagegen langsam, mochte sie noch so schnell geführt sein. Mit dem Bogen war er gut, mit der Klinge schlecht. Der Beste seines Alters, konnte er sich nennen. Der Beste im Bogenschießen. Nicht der Beste mit der Klinge. Das war Litan. Zorn überkam ihn. Zorn auf Litan, den Angeber.  

Wenn ich mit meinem Schwert vor dir stehe, was kannst du dann mit deinem Bogen noch anrichten? So spottete Litan über ihn.  

Soweit kommst du nicht wenn ich dir einen Pfeil durch den Kopf jage! Das hatte er geantwortet.  

Doch Litan spottete nur weiter über ihn. Wie willst du mich treffen, wenn du mich nicht sehen kannst?  

Es war die Wahrheit, Litan war nicht nur gut im Schwertkampf, sondern auch gut darin, sich so leise wie möglich anzuschleichen und den Feind aus dem Hinterhalt anzugreifen. Daraufhin hatte er Litan und dessen Freunden den Rücken gekehrt und war davongestapft.  

Er ließ die Sehne los. Der Pfeil flog gerade durch die Luft und traf den Feind mitten ins Herz. Er lief über den Sand auf den Feind zu, betrachtete die Ansammlung von Pfeilen, die in seinem Körper steckte und stellte sich dabei vor, es wäre Litan. Nicht mit allen hatte er seine Ziele getroffen, doch gegenüber dem letzten Mal hatte er sich wenigstens ein bisschen verbessert. Er zog alle zwei Dutzend Pfeile aus der Puppe und steckte sie sich wieder nach hinten in seinen Köcher. Er kehrte zu dem Seil zurück, das als Markierung diente, damit die Schützen immer von der gleichen Entfernung auf die Puppen schießen konnten, während neben ihm sein Meister auftauchte.  

„Gut gemacht, Jiran! Ich sehe dich dann morgen wieder."  

Mit diesen Worten verschwand er. Jiran blieb allein zurück. Sein Meister war äußerst wortkarg, aber das störte Jiran nicht. Er wollte keinen Meister, der die ganze Zeit nur plapperte. Einige stichhaltige Anweisungen oder Tipps reichten ihm, den Rest fand er selbst heraus. Rechts und links von ihm trainierten andere Schützen auf den gleichen Sandplätzen. Und von den weiter entfernten Übungsplätzen der Schwertkämpfer, konnte er das Klirren von Stahl auf Stahl hören, das das leise Sirren der Pfeile neben ihm leicht übertönte. Trotzdem hörte er lieber das leise Sirren, als das laute Klirren.  

Nachdem sein Meister schon gegangen war, und die Übungsstunden somit vorbei waren, beschloss er, für heute auch Schluss zu machen und den Übungsplatz zu verlassen. Also kehrte er den Schützen den Rücken zu und kam dem Klirren der Schwerter immer näher. Unbeabsichtigt lief er schneller. Willst du jetzt auch noch, dass er dich Angsthase nennt, weil du dich vor seinem Spott fürchtest? Er zwang sich wieder langsamer zu gehen. Er war schon fast am Ende der Übungsplätze angelangt, als er die Stimme vernahm, von der er fast schon gehofft hatte, er müsste sie heute nicht mehr hören.  

„Hey, Jiran! Wo willst du denn so schnell hin? Hat der Meisterschütze Angst?" 

„Nein.", sagte Jiran kleinlaut. Er drehte sich nicht um, lief weiter und versuchte gelangweilt zu wirken. Aber er hätte sich denken können, dass Litan sich nicht wie ein blöder Hund vertreiben lassen würde.  

„Hey, bin ich nicht gut genug für dich? Hast du von dir eine höhere Meinung?", fragte Litan ihn spöttisch.  

Wutentbrannt drehte Jiran sich um. „Wenn du jetzt nicht gleich deine verdammte Klappe hältst, dann..."  

Der Blutschrein [1] - Die EntführungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt