Kapitel IX

93 13 1
                                    

IX. Tag

Trotz seines nächtlichen Ausflugs wachte er noch auf, bevor der Schmied kam, um ihn abzuholen. Er nutzte die Zeit, um sich einige Gedanken zu machen. Es gab also doch Wachen im Dorf. Sie waren allerdings nicht viele, sonst hätten sie Jiran schon früher entdeckt. Trotzdem beeinflusste dies seine Flucht, sollte er einen Weg finden. Und dieser Weg musste die Wachen berücksichtigen. Aber so bald würde er nicht fliehen können. Das wusste er. Er war nicht schneller als die Nachtelfen. Außerdem wusste er nicht, ob die Nachtelfen nicht noch andere Vorkehrungen getroffen hatten, damit er nicht fliehen konnte. Denn würde er ihnen entkommen, könnte er Informationen über die Nachtelfen an den Senat weitergeben. Das konnte für Alantirs Clan tödlich sein. Denn dann wüssten die Städte genau, wo sie suchen müssten.

Aber eine andere Sache beschäftigte ihn mehr. Strubbel. Bei der Erinnerung daran, wie Sargil das Wort ausgesprochen hatte, musste er unwillkürlich wieder grinsen. Aber viel wichtiger war die Frage, wer der Typ überhaupt war. Er wohnte nicht im Dorf, sondern in den Géélahainen - Jiran hatte tatsächlich Recht gehabt mit seiner Vermutung, dass hier irgendwo in der Nähe eine Menge Géélabäume zu finden sein würden -, wie Sargil behauptetet hatte. Und Ilena hatte er mitgenommen. War er vielleicht gar kein Nachtelf? Der Name war für einen Nachtelfen mehr als seltsam, aber es konnte sehr gut auch einfach ein Spitzname sein.

Was machte ein Nachtelf außerhalb des Dorfes? Er presste vielleicht den Géélasaft, den Jiran getrunken und vorzüglich fand. Oder dieser Strubbel war eben kein Nachtelf. Aber was war er dann? Alle Wesen, die in den Ödlanden lebten, konnte er ausschließen. So jemanden würden die Nachtelfen nicht in ihrer Nähe dulden. Ein Elf? Gab es vielleicht noch einen Elfen in seiner Nähe, den die Nachtelfen duldeten? Lebte er deshalb so weit außerhalb des Dorfes? Oder ein Mensch? Ein Zwerg? Naja, ein Zwerg war unwahrscheinlich. Die lebten doch lieber in ihren dunklen Höhlen, als an der Oberfläche in einem Wald. Andererseits waren sie ja in den Bergen, der bevorzugten Heimat der Zwerge.

Und ein Mensch? Das war wohl neben dem Nachtelfen und dem Elfen, die wahrscheinlichste Möglichkeit. Menschen hatten viel mit Elfen und damit auch den Nachtelfen gemein. Nur waren die Elfen geschickter im Umgang mit Waffen und auch schlauer und damit stolzer. Trotzdem waren die Menschen nicht minder stolz auf alles, was sie geschaffen hatten. Aber wer Strubbel wirklich war und warum er dort lebte, ob Ilena wirklich bei ihm war und wieso, das würde er nur herausfinden, wenn er diesen Strubbel besuchte. Damit war es beschlossene Sache. Trotz Sargil würde er morgen noch einmal einen Ausflug wagen. Eigentlich konnte er, wenn er ungesehen blieb, auch gleich aus dem Dorf verschwinden. Das wäre dann schon ein kleines Wunder.

Und dann war da noch die Tochter des Schmiedes, die ihn gestern gesehen hatte. Er war gespannt, was ihn vom Schmied erwarten würde. An seiner Stelle würde er sich ja rausschmeißen, aber vielleicht sperrte der Schmied auch einfach nur die Falltür ab oder stellte etwas darauf, sodass Jiran sie nicht mehr öffnen konnte.

Die Falltür wurde geöffnet und die Öffnung warf einen viereckigen Lichtschein auf den erdigen Kellerboden. Jiran erklomm die Leiter in voller Erwartung einer Schimpftirade und sah sich dem offensichtlich erfreuten Schmied gegenüber. Eigentlich hätte er eine Standpauke vom Schmied erwartet. Oder dass er ihn ohne ein Wort vor die Tür setzte. Nichts dergleichen tat Hessan. Augenscheinlich freute es ihn nur, dass er pünktlich wach war und er Jiran nicht erst wecken musste. Vielleicht hatte es seine Tochter ihm noch nicht erzählt. Aber das konnte Jiran nur Recht sein, also schob er diese Gedanken zur Seite.

Die Gesellen waren genau wie gestern auch schon da. Jiran hoffte - und der Schmied höchstwahr-scheinlich auch -, dass heute nicht ganz so viel Kundschaft kommen würde, wie am gestrigen Tag. Aber zuerst einmal wurden beide enttäuscht. Denn nicht lange nachdem sie mit der Arbeit begonnen hatten, strömten die ersten Kunden herein. Die meisten aber waren von Faranirs Clan und forderten ihre Waffen oder Rüstungen zurück. Inzwischen konnte Jiran die beiden Clans unterscheiden. Die Nachtelfen nämlich trugen immer irgendwo eine Art Wappen. Faranirs Wappen war ein schwarzes Zelt auf weißem Grund. Alantirs Nachtelfen aber trugen eine orangerote Frucht auf schwarzem Grund spazieren. Er würde wetten, dass das eine Géélafrucht war. Sicher konnte er es nicht sagen, denn eine dieser Früchte hatte er noch nie gesehen. Sollte er es aber schaffen, heute Nacht bis zum Géélahain zu kommen, würde er auch das herausfinden.

Der Blutschrein [1] - Die EntführungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt