Kapitel VI

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VI. Tag

Seine Sinne wurden stärker und er erwachte wie aus einem Schlaf. Geschlafen hatte er aber nicht. Das wusste er. Er roch Feuer, oder zumindest dessen beißenden Rauch. Ein schwacher, flackernder Licht-schein bohrte sich durch die Schwärze zu seinen Augen. Er hörte Schaben von Metall auf Stein. Er kannte das Geräusch. Er hatte es immer gehört, wenn sein Bruder Goan seine Waffen geschärft hatte. Zwar strahlte das Feuer viel Wärme aus, aber seine klamme Kleidung war noch nicht getrocknet und er saß weit davon entfernt, sodass ihm nicht sonderlich warm war. Außerdem strich die kühle Nachtluft um das Feuer, die ihn ebenfalls zittern ließ. Das Feuer war jetzt deutlich zu erkennen. Auf der anderen Seite hockte ein Nachtelf. Er schliff sein Schwert, wie Jiran vermutet hatte. 

Jetzt fielen Jiran auch wieder die ganzen Ereignisse ein, die in den letzten Stunden geschehen waren. Wut kochte in ihm hoch. Wut auf die Nachtelfen. Er wollte sich befreien. Aber er war zu stark gefesselt. Mit dem Rücken gegen den Baum, die Füße nach vorne gestreckt, die ebenfalls zusammengebunden waren. Ilena war neben ihn an denselben Baum gefesselt worden. Sie war noch nicht wach. Ihr Kopf hing ihr auf die Schulter. Er fragte sich, ob sie noch unter dem Schlag des Nachtelfen litt oder ob man ihr auch die Flüssigkeit verabreicht hatte, die sie auch ihn gezwungen hatten zu trinken. Das wusste er noch, aber die Erinnerung daran war verschwommen. 

Er schaute sich genauer um. Vor ihm erstreckte sich eine große Lichtung. Er musste die Augen zu-sammenkneifen, damit er überhaupt etwas erkennen konnte und dann war das Feuer so hell, dass er nicht sonderlich weit sah. Aber er konnte Schemen von Zelten erkennen. So wie es aussah, war die ganze Lichtung damit gefüllt. Hier lagerten also noch deutlich mehr Nachtelfen, als die, denen er am Abend begegnet war. Sonst konnte er kein weiteres Feuer entdecken. Der Nachtelf, der ihm gegenüber saß, war die einzige Wache.  

Dieser sah auf einmal auf. Sein Blick ruhte für eine Weile auf Jiran, dann erhob er sich, legte Schleifstein und Schwert zu Boden und verschwand in der Dunkelheit. Aber das kümmerte Jiran wenig. Die Nachtluft ließ das Feuer tanzen. Er starrte in die Flammen und versuchte so die Kälte aus seinen Gliedern und die Wut, Sorge und die Angst aus seinem Kopf zu verbannen. 

Einzelne Flammenzungen lösten sich von den großen Flammen und zerstoben zu Funken. Die Funken flogen durch die Luft, wurden vom Wind umher gewirbelt. Schließlich landeten sie sanft auf dem durchnässten, weichen Boden, der sie sofort erlöschen ließ. Ein Ast in der Mitte des Feuers brach durch. Es knackte und noch mehr Funken stoben auf. Aus den Augenwinkeln sah Jiran den Nachtelfen zurückkehren.  

Er löste sich vom Feuer, als der Nachtelf eine Schüssel und einen Löffel dazu neben ihm abstellte. Das Feuer hatte wenig geholfen, wie auch sollte es das vermögen, was Jiran schon seit Jahren nicht vermochte, nämlich die Angst und die Sorgen zu vertreiben. In Ryonin war es Litan gewesen, der für diese Gefühle verantwortlich gewesen war und nun waren es die Nachtelfen. 

Er besah sich das, was der Nachtelf ihm vorgesetzt hatte. Essen konnte man es eigentlich nicht nennen. Ein zäher Brei. Haferbrei. Er konnte Haferbrei nicht leiden, denn er schmeckte grauenhaft nach nichts und kalt, so wie jetzt, war er noch schlimmer. Er nahm die Schüssel trotzdem in seine Hände.  

Was sollte er auch anderes erwarten? Er war ein Gefangener der Nachtelfen. Er konnte froh sein, dass ihm überhaupt etwas zum Essen gegeben worden war. Mit diesem Vorsatz machte er sich über das karge und schlecht schmeckende Mahl her. Er war wenigstens so gefesselt, dass er seine Ellbogen und Hände noch bewegen konnte. Sonst wäre es auch ziemlich schwierig geworden. Etwas ungewohnt war es dennoch, denn er konnte seinen Kopf nicht richtig nach vorne bewegen, also musste er den Löffel weit zum Mund führen. Sein Heißhunger war durch den wenigen Haferbrei kaum zu besänftigen. Gefangen zu werden, machte hungrig, auch wenn man es nicht glauben würde. Er stellte die leere Schüssel wieder weg.  

Der Blutschrein [1] - Die EntführungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt